DAS LIED DES ACHILL von Madeline Miller {Rant Review}

Um euch etwas Kontext zu geben: Es ist ein Uhr in der Nacht, ich habe zwei lange Sprachnachrichten an eine Freundin geschickt, habe in Rekordzeit eine Flasche alkoholfreies Bier getrunken, bin durch Goodreads Rezensionen geskipt – ich bin gerade richtig frustriert.

Nicht traurig.

Nicht am Boden zerstört oder in Tränen aufgelöst.

Frustiert.

Ich war optimistisch, dass ich diesem Buch gegenüber am Ende sehr positiv gestimmt sein würde. Es lässt sich verdammt leicht lesen, ich habe ein großes Herz für griechische Mythologie, ich war sehr angetan von der Idee, mal nicht den alten Paris-liebt-Helena Hut vorgesetzt zu bekommen, sondern stattdessen die Romanze zwischen Achilles und seinem Gefährten/ Freund/ Schüler Patroklos. Nach der ersten Hälfte des Buches dachte ich noch, dieses Buch wird ein solides, angenehm leichtes Leseerlebnis, bei dem an Tragik wahrscheinlich nicht gespart werden wird, perfekt für die ersten richtig warmen Frühlingstage. Wenig wusste ich, wie sehr die zweite Hälfte den Karren vor die Wand fahren würde.


Handlung

Die Handlung lässt sich schnell zusammenfassen. Wir befinden uns im antiken Griechenland, im goldenen Zeitalter der Helden und Götter. Es geht um die Liebesbeziehung zwischen den Halbgott Achilles und seinem Freund und Gefährten Patroklos, erzählt aus der Perspektive von Letzterem, von der Kindheit bis hin zum Tod. Der Rahmen der Geschichte ist weltberühmt, die beiden sind Figuren der Ilias und als solche spielt natürlich der trojanische Krieg als Schauplatz eine zentrale Rolle, vor allem in der zweiten Buchhälfte. Meine Generation kennt den Film Troja wahrscheinlich noch (dieser ehm nicht gute Hollywoodstreifen mit Brad Pitt und Orlando Bloom) und einige von euch haben vielleicht auch die Ilias in der ein oder anderen Form gelesen (so wie ich vor vielen vielen Jahren, aber nur in einer Übersetzung für Jugendliche) und wissen daher, wie die Geschichte ausgeht. Für alle anderen lasse ich das an dieser Stelle trotzdem einmal offen.


Ich wollte dieses Buch unbedingt lesen; mein einziges Bedenken nach den ersten beiden Kapiteln war, wie es gelingen soll, eine Zeitspanne von ca. 20 Jahren in ~350 Seiten zu packen. Ich bin keine Freundin von Zeitraffern, leider sind Zeitraffer in diesem Buch aber das Mittel der Wahl und das merkt man von Anfang an. Patroklos‘ Geschichte beginnt mit einer kurzen Schilderung seiner Geburt, danach führt er uns anhand einiger Anekdoten durch seine Kindheit und frühe Jugend. Sowie er als Junge/ junger Jugendlicher auf Achilles trifft, verlangsamt sich das Erzähltempo etwas, damit Platz für die beginnende Liebesbeziehung der beiden ist. Ich will nicht lügen, ich mochte die erotisch aufgeladene Stimmung in diesen Kapiteln, das waren mit unter meine Lieblingskapitel, allerdings verpuffte diese Stimmung schnell wieder. Man erfährt von der Unterrichtung der durch den Zentaur Chiron und von der Prophezeiung, dass Achilles der größte kriger seiner Generation werden wird, er sich jedoch entscheiden muss: Entweder er wird jung und ruhmreich sterben, sein Name unvergessen bleiben. Oder er wird ein langes aber ruhmloses Leben führen können, und niemand wird sich je an ihn erinnern. Sehr zu Patroklos‘ Bedauern entscheidet sich Achilles natürlich für Option 1 – und zieht in den trojanischen Krieg. Patroklos begleitet ihn (aus Liiiieeeebe), dabei ist er ein mieserabler Kämpfer und kann auch sonst nichts, was ihm in einer Armee irgendeine Daseinsberechtigung geben würde. Korrigiert mich, wenn ich Mumpitz erzähle, aber soweit ich weiß, ist auf dem Schlachtfeld kein Platz für Leute, die keinen Beitrag leisten. Aber gut, Liebesgeschichte, die zwei wollen sich nicht trennen, weder in diesem Buch noch in der Ilias.


Erste Hälfte wie YA, zweite Hälfte WTF

Die erste Hälfte des Buches gefiel mir noch. Es hatte sehr viel von einem Jugendbuch, meiner Meinung nach. Man kommt sehr einfach hinein in die Geschichte, die Hauptfiguren sind noch jung und in Patroklos‘ Fall etwas wackelig auf den Beinen. Die Dialoge sind kurz und recht eindimensional, soll heißen da muss man nichts hineininterpretieren, hinter den Worten steckt nichts weiter als das, was sie offen preisgeben. Das wird übrigens als eine von Achilles‘ Charaktereigenschaften dargestellt, dass nichts von dem, was er sagt, versteckte Bedeutungen hat. Im Buch steht dann sinngemäß „andere sahen darin einen Beweis für die Schlichtheit seines Geistes, aber so war es nicht“. Na ja, der Meinung kann man sein, vor allem wenn man erst vierzehn ist und über beide Ohren verliebt. Wenn jedoch (wie gesagt, das Buch umfasst gute zwei Jahrzehnte) zwei Männer, die auf die dreißig zugehen, noch immer so inhaltsleere Dialoge miteinander führen wie am Anfang des Buches, dann tut es mir leid, aber dann seid ihr zwei vielleicht wirklich schlicht nicht die hellsten Kerzen auf dem Kuchen. Das ist auch völlig okay, aber tut nicht so als ob. Wenn ihr euch jetzt fragt, aber was sind das denn bitte für Dialoge, dann habe ich auch sämtlichen Dialogen zwischen den beiden, an die ich mich erinnern kann, hier mal einen Querschnitt erstellt:

Patroklos: Wo warst du?

Achilles: Bei meiner Mutter.

Patroklos: Wie geht es ihr?

Achilles: Ihr geht es gut.

Patroklos: Hat sie was über mich gesagt?

Achilles: Nein.

Patroklos: Was hat sie gesagt?

Achilles: Ach, nichts weiter.

Patroklos: Du weißt, Achilles, wo du hingehst, da gehe auch ich hin. Ich will nicht ohne dich leben. Ich kann nicht. Wenn du stirbst, dann bringe ich mich um.

Achilles: Ja, ich weiß.

Ich übertreibe nicht, dieser Art sind die Dialoge zwischen den beiden. Achilles geht ständig zu seiner Wassernymphenmutter Thetis und jedes Mal, wenn er zurückkommt, stellt Patroklos ihm die gleiche Frage: „Wie geht es deiner Mutter?“ Auch dreizehn Jahre später noch. Junge, seine Mutter hasst dich, du bist ihr den Seetang unter ihren Fingernägeln nicht wert, sie interessiert sich einzig und allein für den Ruhm ihres Sohnes, glaubst du wirklich, die Mutti beginnt die Unterhaltung mit „Ach Achilles, also meine Woche war wirklich anstrengend, ich weiß wirklich nicht, ob ich noch lange durchhalte, ich habe da diese eine Nachbarin, die …“?? Zumal Achilles ihm jedes Mal die gleiche Antwort gibt, nämlich dass es ihr gut gehe. Wenn es nicht gerade um die Befindlichkeiten von Thetis geht, reden die beiden eigentlich ständig nur über Achilles Besessenheit, Ruhm zu erlangen, oder Patroklos will irgendetwas von Achilles. Dass er für ihn Laute spielt. Dass er XYZ rettet. Dass er dies oder das tut. Dass er auf keinen Fall Hector töten soll, worauf Achilles wie eine schlecht programmierte KI immer das gleiche sagt: „Er hat mir nichts getan, warum sollte ich ihn töten wollen?“ Weil du diesen Krieg gewinnen willst und er nun einmal das Zentrum der trojanischen Armee ist, Dummbo. Weil du der einzige bist, der dazu fähig ist, Hector zu besiegen, ergo kriegst du deinen blöden Ruhm auch nicht, solange Hector das Heer anführt. Aber wie gesagt, weiter als bis zum Satzende denkt er nicht und seine Sätze sind in der Regel sehr kurz.

Wie viele andere Leser:innen habe ich mich am Anfang gefragt, wie Achilles überhaupt dazu kommt, sich in Patroklos zu verlieben. Es erschließt sich nicht – am Ende vielleicht ein bisschen, aber dann zu sagen „Das wird es gewesen sein, was Achilles schon immer in Patroklos gesehen hat“ ist mir zu viel der Ausreden, weil man diese Entwicklung anhand dessen, was Patroklos als Jugendlicher tat und sagte, eben nicht ablesen konnte. Vor allem nicht, wenn man selbst zu blöd ist, Zusammenhänge herzustellen. Dass Patroklos sich in Achilles verliebt, ist absolut nachvollziehbar, auch wenn es definitiv keine gesunde Liebe ist – und sich nie zu einer entwickelt. Patroklos ist das graue Mäuschen, der enterbte Sohn, der von allen ignoriert wird, der allen egal ist, der nichts wirklich kann und auch keine Affinität zu irgendetwas hat. Absolut verständlich, dass jemand, der sein Leben lang übersehen und kleingemacht wurde, sich in den göttlich schönen, übermenschlichen Achilles verliebt, den jeder toll findet und der stärker und besser ist als alle anderen. Und der das weiß und in dieser Rolle aufblüht. Bescheidenheit ist kein zweiter Vorname von Achilles. Der lautet Meiner-Mutter-geht-es-gut. Aber anders herum? Achilles hat keinen Grund, noch sagt er Patroklos jemals, was er an ihm so sehr liebt. Kein einziges Mal fragt er Patroklos nach seiner Geschichte, kein einziges Mal zeigt er irgendein Interesse an seiner Person, seiner Geschichte. Ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass Achilles schlicht das Gefühl liebte, dass jemand ihm in den Tod folgen würde, dass jemand ohne ihn nicht sein will/kann. Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, dass Achilles je Patroklos Liebe erwidert. Dass er erst am Ende mitbekommt, was für ein Haufen Kacke er ist und sich dann zum ersten Mal ein wenig selbst reflektiert. Und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass Patroklos auch den Achilles liebt, der vor ihm steht, sondern eine romantisierte, moralisch bessere Version von ihm, die nicht existiert und niemals existiert hat. Leider wird das von dem Buch aber nicht so dargestellt, sondern als große, sexy, tragische Romanze zelebriert. Dabei ist diese Beziehung – man könnte beinahe sagen toxisch.

Wenn dein Partner dir ständig sagt, er würde sich für dich ins Messer werfen und alles, was du dazu zu sagen hast „Ja, ich weiß“ lautet, dann wäre es an der Zeit, mal ganz offen miteinander über die gemeinsame Beziehung zu reden. Das ganze wird quasi auf die Spitze getrieben, weil das genau das ist, was Patroklos Achilles an einer Stelle vorschlägt. Achilles hat sich zerworfen mit König Agamemnon, dem obersten Heeresführer, und hat ihm gesagt „Dude, solange du mich nicht auf Knien um Vergebung bittest, werde ich keinen Finger mehr in deinem Krieg rühren.“ Dadurch geriet die griechische Armee stark in Bedrängnis, weil sie ohne Achilles offenbar keinen Kampf gewinnen können. Weil Patroklos nicht länger dabei zusehen will, wie sinnlos Menschen abgeschlachtet werden, nur weil zwei Alphas ihren Unterhosenvergleich nicht unterbrechen wollen, geht er also zu Achilles und sagt: „Du, Achilles, gib mir deine Rüstung, ich verkleide mich als dich und zeige mich auf dem Schlachtfeld, damit alle denken, du seiest wieder da. Dann rennen die Trojaner schreiend davon und wir gewinnen und du kriegst deine Ehre, ohne was dafür tun zu müssen. Ich kann zwar nicht kämpfen, aber keine Sorge, es werden eh alle vor mir wegrennen.“ (als ob Hector alles fallen lassen würde und schreiend das Weite suchen würde bei Achilles Anblick). UND WAS TUT ACHILLES?! WAS TUT ER? ER STIMMT ZU. Wer stimmt so einem Schwachsinn auch noch zu? Das wäre, als würde mein Freund mich Hochschwangere zum Free Climbing gehen lassen, nachdem ich ihm versichere „Du, da passiert gar nichts, ich fall schon nicht runter.“, dabei habe ich Höhenangst und war noch nie klettern und mein Freund weiß das. Und dieses Dummbrot von Halbgott stimmt ihm zu, kriegt aber den eigenen Arsch nicht hoch, weil er sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Patroklos – lauf um dein Leben, renn weg von diesem Mann solange du noch kannst. Der lässt dich ins offene Messer rennen. Soweit ich weiß, entspricht diese Version zwar dem Original, aber liebe Madeline Miller, im Sinne der Logik und der Glaubwürdigkeit Ihrer Liebesgeschichte, warum um alles in der Welt haben Sie sich nicht die künstlerische Freiheit genommen, diese Stelle abzuändern? Wieso???

Aber am schlimmsten war für mich das unregelmäßige, stets wechselnde Erzähltempo des Buches. 350 Seiten waren meiner Meinung nach einfach nicht ausreichend, um die Geschichte in dem Kontext zu erzählen, wie Madeline Miller es wollte. Oder sie hat es einfach nicht gut umgesetzt. Heraus kam eine verhunzte zweite Buchhälfte, in der das Erzähltempo nicht stillhalten konnte und beide Hauptcharaktere vor die Wand gefahren wurden. Eine der Kernstellen der Ilias, eine der wichtigsten Stellen und ganz sicher die wichtigste Stelle in Achilles‘ Heldenepos, wird in einem Zeitrafferkapitel innerhalb eines Paragraphen abgefrühstückt. Ich war fassungslos.

Liebe Leute, die bei diesem Buch geweint haben, die diesem Buch die Romanze abgekauft haben und diesem Buch fünf Sterne gegeben haben und es zu ihren Highlights des Jahres zählen – bitte bitte erklärt mir, was hat euch emotional an diese beiden Figuren gebunden? An welcher Stelle war euch ihr Schicksal nicht länger total egal? Wie kann der wahre Star des Buches nicht Odysseus sein, der einzige nebst Priamos, König von Troja, der ein Gehirn zu besitzen scheint und vernünftig sprechen kann? Abgesehen davon, dass Odysseus Achilles‘ und Patroklos‘ Dummheit mit jedem seiner Sätze nur noch mehr hervorhebt, was tatsächlich absolut lustig und lesenswert ist.

Die schmerzhafteste Erkenntnis für mich war, dass dieses Buch den Women’s Prize for Fiction 2012 gewonnen hat, der damals noch Orange Prize hieß. Ich habe Achtung vor diesem Preis, war die letzten Jahre immer voller Vorfreude, wenn die Longlist und Shortlist bekanntgegeben wurden und dann letztlich die Preisverleihung stattfand. Ich verstehe es nicht, wie dieses Buch diesen Preis gewinnen konnte? Vor allem von einem Preiskomitee, dass von sich behauptet, herausragende feministische Literatur von Autorinnen zu würdigen. Warum hackt man auf Twilight herum, aber dieses Buch bekommt den Lorbeerkranz aufgesetzt? Edward Cullen, so fehlerhaft er auch ist, hatte mehr Substanz als dieser Achilles. So scheiße der 2004er Troja Film auch war, die Brad Pitt Version ist mir zehnmal lieber als dieser dümmste aller Charaktere.

Ein positives Wort bleibt mir noch zu sagen: Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt gelangweilt. Selbst als es immer alberner und frustrierender wurde, es hatte so ein bisschen das Wesen von Fast Food. Man hat Bock drauf, man genießt die Schlichtheit, die Einfachheit, die Zugänglichkeit, aber am Ende ist es kein gutes und auch kein gesundes Essen und man ist sich dessen bewusst und erfreut sich dennoch an jedem Bissen. Und wenn Achilles der Burger war, der nicht so aussieht wie in der Werbung, und Patroklos die semiguten, schon etwas schlabberigen Pommes darstellte, die man mit viel Ketchup und Mayo dann auch noch okay findet, dann war Odysseus das Eis mit einer fetten Ladung Karamellsoße – das einzige Objekt wahrer Begierde, auf das man sich die ganze Zeit über freut und der mit Abstand der beste Teil des gesamten Menüs 😉

In diesem Sinne,

Habt Spaß an euren Büchern ❤

Eure Lotti

DOMINICANA von Angie Cruz {Rezension}

Ich genieße die letzten Wochen / eineinhalb Monate meiner Schwangerschaft damit, meine neu gewonnene und zeitlich begrenzte Freizeit zu genießen und ungezügelt Bücher zu bingen. Nach was weiß ich wie vielen Monaten des am Abend zu Hause Herumsitzens habe ich gefühlt alles gesehen, was mich auf Netflix so interessiert, auch die Bachelorarbeit ist vollendet – da kommt neuer Lesestoff gerade recht.

Ich habe drei Tage gebraucht, um das Buch durchzulesen, so ausgehungert war ich – und gleichzeitig so gut unterhalten. Vieles an Dominicana hat mir sehr gut gefallen, lediglich eine Sache hat mich etwas gestört, darauf komme ich gleich zurück.

Für alle unter euch, die Geographie nicht unbedingt zu ihren Stärken zählen – die Dominikanische Republik befindet sich zusammen mit dem Nachbarland Haiti auf der Insel Hispaniola östlich von Cuba in der Karibik. Dort, in der Dom. Rep. der 60er Jahre, beginnt Dominicana. Wir begegnen der 15-jährigen Ana, die mehr oder weniger in eine Ehe mit dem 32-jährigen Juan gedrängt wird, denn er macht mit seinen Brüdern vielversprechende Geschäfte und will Ana mit nach New York City nehmen, wovon sich Anas Verwandte Aufstiegschancen für die gesamte Familie erhoffen. Einmal in New York angekommen, gestaltet sich Anas Alltag jedoch anders als erhofft. Anstatt Englisch lernen zu dürfen, tanzen zu gehen und sich den Traum von einer höheren Bildung erfüllen zu können, ist Ana mehr oder weniger eingesperrt in ihrer Wohnung. Sie soll nicht allein nach draußen, sie soll nicht öffnen, wenn es an der Tür klingelt, sie hat keine Papiere. Ihre Ehe mit Juan ist von häuslicher Gewalt geprägt und wird überschattet von Juans Affäre. Freunde hat ana keine.

Ihre Situation ändert sich erst, als Juan zurück in die Dom. Rep. reist, als dort politische Unruhen ausbrechen und er seine Investitionen retten muss. Zu dieser Zeit ist Ana bereits schwanger. Juans jüngster Bruder César soll während Juans Abwesenheit auf Ana aufpassen. César, ein Frauenheld. César, der charmant ist, weniger ernsthaft als sein Bruder und leichtsinniger. Kaum ist Juan aus dem Haus, blüht Ana auf. Es dauert nicht lange, da entwickelt sich zwischen ihr und César eine tiefe Leidenschaft und die beiden beginnen, Pläne zu schmieden …


Kein YA, dafür überzeugende Teenager und tolle weibliche Charaktere

Zwei Dinge sind mir besonders positiv aufgefallen. Erstens ist Ana für mich eine jugendliche Figur, der ich ihr Alter abkaufe. Angie Cruz ist 49 Jahre alt, und wie es leider häufig der Fall ist, wenn sehr erwachsene Schriftsteller:innen jugendliche Figuren in ihre Romane einbauen, lassen sich diese nur allzu leicht in eine der beiden Kategorien einteilen: naiver, selbstverliebter und nerviger Teenager, dessen Generation das Ende der Gesellschaft besiegeln wird, oder überdurchschnittlich weiser, bescheidener, talentierter Teenager, der alle Erwachsenen mit Stolz und Hoffnung erfüllt. Yikes. Angie Cruz hat es meiner Meinung nach jedoch geschafft, eine realistische 15-jährige zu portraitieren, die einem tatsächlich auch sympathisch sein kann (mir zumindest war sie sympathisch), anstatt das Klische des pubertierenden weiblichen Teenagermonsters zu bedienen. Ana ist sehr jung und das merkt man ihr an. Sie hat noch Träume, die einem als erfahrenere:r Leser:in total unrealistisch erscheinen. Wenn ihr Ehemann nicht guckt, schminkt sie sich gern. Sie dreht die Musik auf und tanz wild, bis sich die Nachbarn beschweren. Sie träumt von Liebe und verliebt sich schnell und mit jugendlicher Leidenschaft in ihren jüngsten Schwager, der schön und charmant ist und ihren großen Träume von Erfolg und Romantik einen Nährboden gibt. Gleichzeitig gewinnt Ana an Selbstsicherheit, entwickelt Pflichtbewusstsein.

Womit ich beim zweiten Punkt wäre, der mir an diesem Roman sehr gut gefallen hat: Er hat kein übersüßtes Happy End, das einem mittelmäßigen Young Adult Roman entsprochen hätte. Da sich die Romanze zwischen Ana und César erst in der zweiten Hälfte des Buches so richtig entwickelt, hatte ich zwischendurch ein wenig die Befürchtung, dass der Roman abdriften und den Weg einer kitschigen Romanze zwischen zwei sehr jungen Menschen einschlagen könnte, weil die Hormone der Hauptfigur, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, Tango tanzen. Aber der Roman bleibt sich treu und wird nicht zur x-belibiegen YA Schnulze. Ich persönlich empfand das Ende als sehr passend und ja, auch befriedigend. Zu realistisch womöglich für ein wahrhaftiges Happy End, aber ich war letztendlich doch gerührt, was vor allem an der Figur von Anas Mutter lag, die ich zum Schluss der ins Herz schließen konnte. Überhaupt gehört das Beziehungsdreieck bestehend aus Ana, ihre Schwester Teresa, und der Mutter für mich zu den Highlights des Buches – im Falle von Teresa ist das schon erstaunlich, da sie und Ana nach Anas Abreise in die USA quasi keinen Kontakt mehr haben, die Worte und Taten der großen Schwester der jüngeren Ana jedoch immer wieder durch den Kopf gehen, während die immer pflichtbewusste, pragmatische Mutter ganz zum Schluss noch einmal zeigt, dass die Liebe zu ihren Kindern am Ende doch über allem steht.


Kleine Abstriche beim Stil und den Männern

Wie oben erwähnt gab es eine Sache, mit der ich mich nicht anfreunden konnte in diesem Buch, und das waren die bewusst weggelassenen Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede. Nach Alex Capus‘ Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer und Bernadine Evaristos Girl, Woman, Other ist Dominicana das dritte Buch gewesen, in dem ich dieser stilistischen Entscheidung begegnete. Ich kann mittlerweile sagen, dass ich diesem Phänomen gegenüber relativ skeptisch bin. Bei Girl, Woman, Other verstand ich die Entscheidung und empfand sie als clever umgesetzt, zumal nicht nicht Anführungszeichen „fehlten“, sondern gleich sämtliche Satzzeichen. Das war wenigstens eloquent. Bei Alex Capus und nun auch bei Angie Cruz allerdings bin ich immer noch nicht ganz überzeugt von der Notwendigkeit und der Wirkung, die hierdurch erzielt werden sollte. Es kam immer wieder vor, dass ich Sätze mehrmals lesen musste, weil mir nicht ersichtlich war, ob und wenn ja, wer jetzt etwas gesagt hatte. Schlussendlich bin ich von dieser Entscheidung eher verwirrt als überzeugt, ich weiß nicht, ob sie wirklich nötig war. Auch die männlichen Charaktere hätten gerne noch etwas stärker beleuchtet werden können; dass Juan ein sehr ernster Mann ist, der meist ans Geschäft und ans Geld denkt und seine Frau schlägt und betrügt, erscheint mir recht skizzenhaft. Das gleiche bei César, der das genaue Gegenteil seines Bruders darstellt und eben genau dem Typ junger Mann entspricht, in den sich jedes 15-jährige heterosexuelle Mädchen ohne Freunde und Sozialleben sofort verlieben würde. Gerade bei Juan gab es meiner Meinung nach noch viel Potential, dieser Figur mehr Facetten zu verleihen.


Mein Fazit

Dominicana ist absolut lesenswert. Ich hoffe, dass das Buch auch auf Deutsch erscheinen wird, sonst wäre ich schon ziemlich enttäuscht. Ana ist eine sehr gelungene Hauptfigur, die mir sehr ans Herz gewachsen ist und deren Figurenentwicklung und innere Kraft mir sehr imponiert hat. Wer Bücher über Heimat und Migration schätzt, der könnte auch mit Dominicana seine Freude haben. Das Buch wurde inspiriert von der Geschichte von Angie Cruz‘ Mutter, was mir wirklich Respekt einflößt vor dem, was die Dominikanerinnen der damaligen Zeit erlebt haben. Trotz allem war Dominicana für mich kein „schwerer“ Roman oder einer der besonders bedrückenden, traurigen, was zum großen Teil an Anas Persönlichkeit und ihrer charmanten Art Dinge anzugehen liegt. Trotz meiner Probleme mit den Anführungszeichen ist Dominicana für mich ein leicht zugängliches Buch; die Kapitel sind nie länger als vier Seiten und damit so kurz, dass man das Versprechen „nur noch fünf Minuten, dann höre ich auf“ an das schlechte Gewissen definitiv brechen wird 😉 Obwohl Dominicana kein YA Roman ist, denke ich, dass der Roman auch von Jugendlichen und von Fans facettenreicher YA gelesen und gemocht werden kann.


Infos zum Buch

Titel: Dominicana (noch keine deutsche Übersetzung erschienen)

Autorin: Angie Cruz

Seitenanzahl: 322

Erscheinungsjahr: 2019 (USA)

Verlag: u.a. John Murray (UK Edition)

Preis: ab ca. 9,39€ (John Murray Taschenbuch Edition, erhältlich z.B. bei Book Depository)

„Sie sind doch jung! Sie können arbeiten!“

Hallo Leute!

Heute will ich mich einmal wieder für ein altes Buch stark machen, dass ich in Rekordzeit durchgelesen habe. Der Roman wurde mir von einer meiner besten Freund:innen empfohlen, da es auf der Lektüreliste stand für einen Kurs über polnische Literatur. Die Rede ist von Marta, geschrieben von Eliza Orzeszkowa. Das Buch wurde 1873 erstveröffentlicht, es hat also schon einige Jahre auf dem Buckel. Meine deutsche Ausgabe stammt aus dem Jahre 1988 und erschien damals beim Ullstein Verlag in der Reihe „Die Frau in der Literatur“. Leider wird das Buch heute nicht mehr gedruckt, man kann es höchstens noch als ebook bekommen oder – so wie ich – die Antiquariate und online Marktplätze danach durchsuchen. Ich hoffe, dass das Buch und die Autorin nicht ganz in der Versenkung verschwinden werden, über eine Neuauflage, vielleicht auch im Rahmen einer neuen Reihe zu Frauen in der Literatur, würde mir wahnsinnig gut gefallen.

Denn „Marta“ war damals vor allem eines: Ein echter Power Booster für die feministische Bewegung. Verständlicherweise!

Wie vermutlich viele von euch habe auch ich von dem Buch „Kim Jiyoung, geboren 1982“ der südkoreanischen Autorin Cho Nam-joo gehört, das in ihrem Heimatland eine riesige Kontroverse ausgelöst hat. „Marta“ schlug seinerzeit in eine vergleichbare Kerbe. Es ist eine Geschichte zum Verzweifeln, zum richtig, richtig wütend werden. Vielleicht nicht gerade die beste Wortwahl für ein attraktives Buchmarketing, aber solche Bücher braucht es eben auch und sie nehmen bei mir eine hohe Stellung ein, weil sie einem so richtig schön unter die Nase reiben, was schief läuft.

Worum geht es also?

Die junge Witwe Marta hat gerade ihren Mann verloren und muss nun mit ihrer kleinen Tochter die geliebte Wohnung verlassen und in einer Dachstube in Warschau hausen. Ihre Möbel konnte sie nicht behalten, Geld hat sie so gut wie keines. So bleibt ihr nur ein einziger Ausweg: Marta muss Arbeit finden. Doch wer würde sie einstellen, und wofür? Ihre gesamte Erziehung – bestehend aus Französisch, Musizieren und Zeichnen – bestand darin, sie auf ihre Rolle als Ehefrau eines anständigen Mannes vorzubereiten, sozusagen als Zierde des Hauses. Keine ihrer Fähigkeiten wurden ihr mit dem Hintergedanken beigebracht, dass man damit ebenso gut seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Ihr Französisch ist nicht gut genug, um als Lehrerin zu arbeiten. Ihre Zeichentechniken sind nicht ausgefeilt genug, um als Illustratorin bei einer Zeitung zu arbeiten. Marta kann nur mit der Hand nähen, aber nicht mit einer Maschine. Erschwerend hinzu kommt, dass allein der Gedanke, eine Frau für etwas einzustellen, für viele Arbeitgeber gar nicht in Frage kommt. Im Verkauf darf sie nicht arbeiten, als Lehrerin für Geographie käme sie nicht in Frage, eine Übersetzerin wäre höchst ungewöhnlich, den Fähigkeiten einer Frau könne ohnehin nicht getraut werden, Männer können all das viel besser. Und so bleibt ihr nur, in einer Nähfabrik zu arbeiten, wo noch alles mit der Hand gemacht wird, wo sie sich „freiwillig“ ausbeuten lässt für einen Hungerlohn, der zu hoch zum Sterben und zu niedrig zum Leben ist. Den letzten Schritt zur „Entmenschlichung“, wie Marta es sieht, nämlich als „Tanzdame“ zum Amüsement der Herren auf der Bühne aufzutreten, den zu gehen weigert sie sich. Besonders eindruckvoll ist hier der Dialog mit einer alten Freundin aus Kindheitstagen, Karolina, die als ebensolche Tanzdame arbeitet und Marta klarmachen möchte: Je eher du begreifst, dass du kein Mensch bist, sondern ein Ding, ein Spielball der Männer, desto besser deine Überlebenschancen. Ums blanke Überleben Martas und ihrer kleinen Tochter geht es letztlich auch …

Es schmerzt

Es schmerzt wirklich, zu sehen, wie eine junge Frau Mitte zwanzig, die auch noch Mutter ist, über 255 Seiten in die Knie gezwungen wird von ihren Mitmenschen, die ihr keine Chance geben wollen, und von einem System, dass nicht bedacht hat, dass auch Ehemänner vorzeitig sterben können und Frauen und Kinder mittellos zurücklassen. Ein System, das in Mädchenbildung keinen Wert für die Gesellschaft sieht, sondern nur Kosten, und das in der Frau an sich auch kein Talent sieht, das dem eines Mannes ebenbürtig wäre. Wie eine äußerst zynische Kirsche auf der Torte des Niedergangs wird ihr von einem Mann sogar noch gesagt: „Sie sind doch jung, gehen Sie doch gefälligst arbeiten, anstatt nach Almosen zu betteln!“

Während andere Romane ihre Message „subtiler“ an die Leserschaft bringen wollen, hält Eliza Orzeszkowa nicht hinter dem Busch. Die Erzählerin des Romans wendet sich sogar mehrfach an die Leserschaft, um sich für die Banalität der Geschichte zu entschuldigen und die direkte, schnörkellose Art und Weise, wie sie erzählt wird. Dabei glaube ich, dass „schnörkellos“ in Anbetracht des Themas und des gesellschaftlichen Kontextes eben genau der richtige Ansatz war. Ein wenig hat mich „Marta“ an eine umgekehrte und entromantisierte Version von „Jane Eyre“ erinnert. Der Vergleich mag hinken, aber während Jane eben einfach ein Powerhouse weiblicher Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert ist, ist Marta eher die Durchschnittsrenate, die zwar will, aber nicht kann.

Auf jeden Fall kein fröhliches Buch, kein Schmöker, aber für Freund:innen der gesellschaftskritischen Literatur ein absolut lesenswertes Buch.


Informationen zum Buch

Titel: Marta

Autorin: Eliza Orzeszkowa

Jahr der Erstveröffentlichung: 1873

Seitenanzahl: 275 (255 + Nachwort und Anmerkungen)

Verlag: Ullstein

Preis: wird nicht mehr gedruckt, kann nur noch gebraucht gekauft werden (meins hat 2€ gekostet)

P.S. Das Buch gibt es unter dem gleichen Titel auch auf Englisch zu kaufen bei der Ohio University Press, kostet aber ca. 27€ (z.B. bei Book Depository), der Blick in die Bibliothek, ins Antiquariat und auf Bücherbörsen lohnt sich also, wenn ihr es nicht als ebook lesen wollt.

Wanderleselust Ep. 5 / {Rezension} PEKING KOMA von Ma Jian

Meine Lieben,

als ich das Buch gestern Abend beendet habe, brauchte ich erst einmal ein kaltes Ingwerbier. Ich musste mir das Gesicht waschen. Ich brauchte ASMR. Ich hatte geweint und war emotional vollkommen am Boden.

Ich hatte mir Peking Koma von Ma Jian als meinen ersten chinesischen Roman ausgewählt, in der Hoffnung, wirklich einen tiefen Einblick in Gesellschaft, Kultur, Geschichte zu bekommen und meine Erwartungen wurden diesbezüglich weit übertroffen. Zum Glück und auch leider, denn die Brutalität, die einem auf diesen 923 Seiten entgegenschlägt, ist teilweise unerträglich.

Schauplätze


  • Peking (Hauptschauplatz)
  • Guangzhou (Hafenstadt nordwestlich von Hong Kong)
  • Xishuangbanna und Umgebung (nahe der Grenze zu Myanmar)
  • Berg Qing Cheng und Umgebung (im Landesinneren)
  • Berg Wutai und Umbegung (südwestlich von Peking)

Ein Mann im Koma, eine Generation im Koma, ein Land im Koma

Peking Koma wird erzählt aus der Sicht des Studenten Dai Wei, der der chinesischen Studentenbewegung Ende der 80er Jahre beitritt, um für mehr Freiheit und Demokratie in China zu demonstrieren. Lange ließ die chinesische Regierung die Proteste zu, bis sie am 3. und 4. Juni 1989 mit scharfer Munition und Panzern auf die friedlich protestierenden Studenten losgingen, viele töteten und noch mehr verletzten. Die genaue Zahl der Todesopfer will die chinesische Regierung bis heute nicht presigeben. Auch Dai Wei wird bei dem Tiananmen Massaker in den Kopf geschossen, doch er überlebt. Er liegt im Koma – für geschlagene 10 Jahre – und kann aber alles hören, was um ihn herum passiert. Dieses Buch ist die Geschichte seines Lebens, aber auch die Geschichte seiner Familie und einer ganzen Generation junger Studenten.

Das Buch besteht somit aus zwei Erzählsträngen – einerseits die Rückblenden durch Dai Weis Kindheit und Jugend, sowie (zum größten Teil) seine Zeit als Student in der Protestbewegung; andererseits seine Zeit wärend des Komas, währenddessen er allen Gesprächen lauscht und seine Mutter ihn pflegt.

Dai Weis Vater, als „Rechtsabweichler“ während der Kulturrevolution über Jahre ins Arbeitslager gesteckt, stirbt nicht lange nach dessen Entlassung aus dem Lager. Dai Weis kleiner Bruder wandert nach Großbritannien aus, und so bleibt nur noch die Mutter, um sich um Dai Wei zu kümmern. Und sie verliert in diesen 10 Jahren alles. Diesen Zusammenbruch eines Menschen auf diese passive Weise miterleben zu müssen – durch die Sicht ihres Sohnes, der nicht bei Bewusstsein ist, nichts tun kann – ging mir furchtbar nahe.

Revolution folgt auf Revolution

Man erfährt in Peking Koma wirklich eine ganze Menge über China zwischen den 60ern und 90ern. Ich, die erst 1998 geboren wurde, habe vieles zum ersten Mal gehört, weil ich mich privat nie mit China befasst habe und unser Lehrplan in Geschichte stattdessen fünfmal die französische Revolution durchnehmen musste. Die Folgen der Kulturrevolution unter Mao Zedong, unter denen die Generation von Dai Weis Eltern zu leiden hatten, und die Situation im Arbeitslager werden dem Leser immer wieder vorgeführt. Die schlimmsten Zitate will ich euch ersparen, aber zusammengefasst gab man den Gefangenen so wenig zu essen, dass sie teilweise in den Kanibalismus getrieben wurden. Bereits die Generation von Dai Weis Eltern war also somit quasi noch traumatisiert von den gewaltigen Umbrüchen der 60er.

Im Zentrum des Buches steht jedoch die Studentenbewegung und deren verstrittenes, versplittertes Innenleben wird im Detail beleuchtet, von ihrer Gründung, über ihre Erfolge und den verheerenden Hungerstreik bis zu ihrer blutigen Zerschlagung. Hier und da verweilte mir der Autor etwas zu lange an einer bestimmten Stelle, aber insgesamt ließ sich das Buch wirklich sehr gut und flüssig weglesen. Da dem Leser bereits zu Beginn des Buches gesagt wird, was geschehen ist, wird man das Gefühl nicht los, während der Kapitel über Dai Weis Studentenleben immer zu die Uhr ticken zu hören – ein schauerliches Gefühl.

Ich habe selten – oder gar nie – in einem nicht-Horrorroman so viel Gewalt erlebt. Ich gebe daher eine ganz klare Warnung heraus für Menschen, die physische, detailliert geschilderte Gewalt & Leichendarstellungen in Büchern nicht ertragen können. Es gibt auch eine sehr verstörende Szene, in der Nekrophilie in Verbindung mit sexuellen Übergriffen bei Männern beschrieben wird.

Dai Wei als Hauptfigur

Ich fand Dai Wei als Hauptfigur gut, auch wenn er im echten Leben wahrscheinlich nicht mein Kumpel wäre. Ich fand ihn, gerade was Mädchen betrifft, wirklich sehr oberflächlich. Ständig musste er irgendwelche sehr eigenartigen Bemerkungen über die Brüste irgendeines Mädchens machen und überhaupt schienen seine Meinung über ein Mädchen auf deren Körpergröße und generelle „Schönheit“ zu beruhen, aber niemals auf ihrem Charakter. Auch kamen manchmal so Anmerkungen wie „naja, Mädchen haben halt weniger Muskeln, da wundert es mich nicht, dass kein Mädchen gerne wandern geht.“ Solche Schlussfolgerungen fand ich, gerade von einem Biologiestudenten kommend, schon sehr fragwürdig und diese ständigen Verallgemeinerungen und Brüste-Besessenheit empfand ich als sehr störend und nervig.

Zum Autoren

Ma Jian lebt heute selbst in England – im Exil. Sein Werk Stick Out Your Tongue (das ich jetzt unbedingt lesen will!!), in dem es um Tibet geht, wurde von der chinesischen Regierung verboten und alle chinesischen Ausgaben vernichtet. Im Laufe seines Lebens lebte der Autor daraufhin im Exil in Hong Kong, Deutschland und später England, wo er bis heute lebt. Fun Fact: Er ist mit seiner englischen Übersetzerin verheiratet, weswegen mittlerweile alle seine Werke zuerst auf Englisch erscheinen, da er in China nicht mehr veröffentlichen darf. Er nahm aktiv Teil bei den Protesten auf dem Tiananmenplatz.

Fazit

⭐⭐⭐⭐⭐⭐⭐⭐ (8/10)

Ich empfehle Peking Koma jedem, der gerne mehr über Chinas jüngere Geschichte und Kultur erfahren will und überdies gerne Geschichten über Revolutionen und Aufstände liest. Aber aufgepasst: Die dargestellte Gewalt ist furchtbar grausam, gerade am Ende. Auch manche „Praktiken“ der dargestellten klassischen chinesischen Medizin sind einfach nur reudig, Stichwort „Urin“. Nichtsdestotrotz ein sehr lesenswerter, wichtiger Roman.

Infos zum Buch

Titel: Peking Koma

Autor: Ma Jian

Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag

Seitenanzahl: 923 (+Nachwort)

Preis: 11,99€

ISBN:978-3-499-25564-9

{Rezension] Say Say Say von Lila Savage

„Auf weise und aufschlussreiche Weise erzählt Say Say Say davon, was es heißt zu lieben in einer Welt, in der Zeit immer abläuft.“

Auf diese Weise wird der Debutroman der us-amerikanischen Schriftstellerin Lila Savage beworben. Mein Freund meinte, ihr Name klingt wie der eines semi-guten Rappers und auch wenn ich mich nie über den Namen einer Person lustig mache, muss ich leider gestehen, dass die Aussage meines Freundes sich leider als recht prophetisch herausgestellt hat.

Der Roman wurde von der englischsprachigen Presse bisher sehr gut aufgenommen und wird vor allem für seine Emotionalität und Dramatik gelobt. Daher nehme ich an, sollte das Buch wirklich erfolgreich sein, wird es bestimmt eine Übersetzung ins Deutsche geben. Dem allgemeinen Lob kann ich mich jedoch absolut nicht anschließen. Meine Mutter ist Krankenschwester, ebenso meine Tante, beide haben auch in der Altenpflege gearbeitet und bis zu meinem 11. Lebensjahr haben sowohl meine Oma als auch mein Opa bis zu ihrem Tod und jeweils mit Pflegestufe 3 bei uns im Haus gewohnt und sind dort von Pfleger*innen und meiner Mutter gepflegt wurden. Beide waren zum Ende hin so gut wie nicht mehr ansprechbar, ich bin also aufgewachsen mit einem sehr hohen Maß an Respekt und Achtung vor Pflegern und Kranken. Und dennoch wurde ich mit der in Say Say Say präsentierten Mischung aus Altenpflege und Sexualität einfach nicht warm.

Denn von Say Say Says angepriesen „Weisheit“ habe ich leider nicht viel mitbekommen. Mir fällt dazu ein tolles Filmzitat von Ron aus Harry Potter und der Orden des Phönix ein, dort sagt er nämlich: „Aufschlussreich? Wohl eher ein Haufen Geschwafel.“ Und leider ging es mir mit Say Say Say genauso – dabei hatte die Geschichte so großes Potential.

Schauplatz

Minneapolis, Minnesota, USA

Kurze Warnung: Meine Review wird unter anderem zum im Buch dargestellten Thema der Sexualität Stellung nehmen. Wer sich unwohl fühlt beim Lesen sexueller Begriffe, der darf gerne herunterscrollen bis zum Fazit 🙂

Zur Handlung

Ella ist in ihren späten Zwanzigern, ist mit der sehr hübschen und sehr kindlich-naiven Alix zusammen und arbeitet als Pflegekraft. Sie wird von Bryn angestellt, dessen Frau Jill bei einem Autounfall so schwere Verletzungen am Gehirn erlitten hat, dass sie seitdem Stück für Stück ihr Gedächtnis verliert. Somit wird Jill mehr und mehr zum Pflegefall, einer Aufgabe, der Bryn emotional und auch physisch einfach nicht mehr gewachsen ist, weshalb er Ella einstellt, die wiederum eine sehr starke Verbundenheit zu Bryn spürt, die – darauf werde ich gleich noch kommen – immer wieder in eigenartigen Sinnierungen über ihre eigenen sexuellen Reize und wie Bryn sie wahrnehmen könnte, ausarten.

Ja, und das war es dann auch schon mit der Handlung.

Warum mir dieses Buch wirklich, wirklich nicht gefallen hat

Zum einen wurde mir als Leser sogut wie nichts präsentiert, womit ich hätte arbeiten können, um irgendeine emotionale Verbindung zu Bryn und Jill aufzubauen. Es gibt in diesem Buch kaum Dialoge. Jill kommt vielleicht fünfmal zu Wort und ich hatte immer wieder das Gefühl, dass Ella lieber über Bryn spricht als über Jill. Bryn wird jedes Mal, sobald er den Raum betritt, Opfer von Ellas inneren angesexten Monologen, sodass ich mich an keinen nennenswerten Satz von ihm erinnern kann.

Im Grunde besteht das Buch zu locker 90% aus Ella, die schwafelt. Und dabei immer wieder total widersprüchliches Zeug von sich gibt. Sie bezeichnet sich als people pleaser, also als jemand, der gemocht werden will und in Ellas Fall angeblich auch erfolgreich damit ist. Ich sage angeblich, weil ich Ella was das Gefallen angeht als absoluten Reinfall erlebt habe. Es gibt einen … ehm … Dialog zwischen Ella und Bryn, der eher ein Monolog ist, weil Bryn nichts sagt, in dem Ella in drei Absätzen 31 Mal die Wörter ich, mir oder mich benutzen muss, um ihm mitzuteilen, dass seine psychische Gesundheit ihr extrem wichtig ist. Sorry Mädel, aber du bist furchtbar im Sammeln von Sympathiepunkten.

Ich habe nichts gegen innere Monologe von Figuren, nur war hier das Problem für mich, dass Ella hier über Handlungen herumphilosophiert hat, die dem Leser vorenthalten wurden. Wie soll ich Gefühle aufbauen für Person, deren Handlungen ich nie mitverfolgen durfte? Stattdessen muss ich mir Ellas Widergekäutes anhören. Das die Geschichte nur 161 Seiten lang ist, hat dem Buch einfach enorm geschadet. Er hat sich viel zu schnell angehört, von Jills mentalen Verfall hat man nichts, gar nichts, mitbekommen, weil – und hier kommen wir zu einem weiteren Punkt, der mir einfach total falsch verarbeitet vorkam – die Autorin statt Dialogen und Szenerie mir lieber Ellas halbgare Sexfantasien über Bryn und ihre Beziehung zu ihren Brüsten schildern musste, die laut ihren eigenen Aussagen bombastisch groß sein müssen.

Ella der Fembot

Am Anfang der Geschichte war ich noch richtig begeistert. Wir haben eine Protagonistin, die in einer glücklichen, sehr liebevollen Beziehung mit ihrer Alix ist, bis – ups – sie sich ebenso sexuell zu einem älteren Mann hingezogen fühlt. Da habe ich durchaus Potential gesehen.

Aber doch nicht so …

Es war irgendwann wirklich nur noch albern, wirklich. Wie eine 16-jährige, die gerade ihre fruchtbaren Tage hat und erste kleine Phantasien entwickelt, hockt Ella auf Bryns Couch, er kommt rein und sie fängt an darüber nachzudenken, was es wohl für eine Situation wäre, wenn er der Vater eines Freundes von ihr wäre, und sie bei einem ihrer Besuche ihren BH nicht angezogen hätte und man dann – man stelle sich vor – einen Nippel blitzen sehen könnte, oder ihre Brüste wippen sehen könnte. Oder was würde wohl sein, wenn sie sich vor seinen Augen ihre vom Regen durchnässte Leggins ausziehen würde und dann im Schlüppi mit nackten Beinen seine Frau versorgen würde. Und dann immer wieder dieses Gerede über ihre Mörderbrüste – ist nicht persönlich gemeint, Ella redet nur öfter darüber, wie besonders BESONDERS RIESIG sie sind. Und darüber, das Bryn sie bestimmt irgendwann zu Boden werfen würde, um mit ihr Sex zu haben während seine Frau im Haus alle Wasserhähne aufdreht. Ey, hallo? Was ist denn hier nur los?!, habe ich mich bei Gedankengängen dieser Art gefragt. Und von so einem Kopfkino dann zurckzuspringen in einen Absatz über die Vergänglichkeit des Lebens – das geht einfach nicht, das passt nicht.

Ich konnte irgendwann einfach nur noch lachen. Ellas Gedanken wirkten in ihrer Wortwahl und ihrer Situationsbezogenheit einfach so unangebracht und ich weigere mich zu glauben, dass eine Person Ende zwanzig auf diese Weise denkt. Anders formuliert und eingearbeitet in die Geschichte hätten diese „erotischen“ Gedanken vielleicht einen Sinn gehabt und der Geschichte eine sehr interessante Dynamik verliehen.

So hatte es aber leider den Anschein als läse ich gerade den laaaangen Prolog zu einem möchtegern feministischen – Verzeihung – Porno. Ich finde die Themen Sexualität und Weiblichkeit immer sehr interessant in Büchern, weil beides so lange Zeit in der Literatur einfach verschwiegen wurde, dass ich mehr als froh bin in einer Zeit zu leben, in der Autorinnen und Autoren wirklich mit sexuellen Normen brechen können und ausprobieren können, wie es ihnen gefällt.

Aber hier … ich weiß nicht, es hat für mich einfach nichts funktioniert in diesem Buch. Der sexuelle Aspekt ging in die Hose. Ich, die sonst immer für komplizierte Charaktere zu haben ist, konnte über Ella nur noch den Kopf schütteln und dadurch dass das Buch zum Großteil aus ihren Gedanken bestand und sie mir jeglichen Kontakt zu den anderen Figuren verweigert hat, konnte ich dieses fehlende Sympathie auch nicht mehr ausbalancieren.

Fazit

⭐⭐ (2.6 / 10)

Say Say Say war leider ein Roman, der mich nicht überzeugen konnte. Die ersten Kapitel gefielen mir wirklich sehr, aber dann ging es steil bergab, bis die Handlung total im Sande verlief und ich mich Ellas unangebrachten, wenig nachfühlbaren Blümchenerotik ausgeliefert sah.

Eine emotionale Verbindung zu Bryn und Jill aufzubauen, war mir unmöglich, da beide in Ellas ewigen Geschwader über ihre Brüste und Selbstbezogenheit komplett untergingen. Kaum Handlung. Kaum Dialoge. Keinerlei Figurenentwicklung. Einfach nur schade.

Lest lieber Beale Street Blues, das Buch ist die Zeit wert und nur 10 Seiten länger und dabei wesentlich ausbalancierter und erotischer.


Infos zum Buch

Titel: Say Say Say

Autorin: Lila Savage

Genre: Blümchenerotik (älterer Herr trifft jüngere Frau)

Seitenanzahl: 161

Verlag: Serpent’s Tail (UK) & Random House (USA)

Preis: ca. 10€

ISBN: 9781788162234

{Rezension} BEALE STREET BLUES von James Baldwin

Ein Roman, der zur aktuellen Lage besser nicht passen könnte von einem us-amerikanischen Autoren, der die USA verließ und nach Südfrankreich zog, weil er den strukturellen Rassismus einfach nicht mehr ausgehalten hat.

Heute stelle ich euch Beale Street Blues vor, oder, wie der Titel im Original lautet, If Beale Street Could Talk.

Zur Handlung

In diesem 1974 erschienenen Roman geht es um Tish und Fonny, ein junges Paar aus dem Stadtteil Harlem in New York City, das gerade erst eine erste gemeinsame Wohnung gefunden hat und kurz vor der Hochzeit stand – als eines Abends die Polizei vor der Tür steht und Fonny wegen Verdachts auf Vergewaltigung festnimmt. Er ist unschuldig, war zum Zeitpunkt der Tat nicht einmal in der Nähe des Tatortes, sondern mit Tish und einem alten Freund in seiner Wohnung.

Kurze Zeit darauf stellt Tish fest, dass sie schwanger ist und Tishs Schwester Ernestine macht einen weißen Anwalt ausfindig, der das Gericht überzeugen soll, dass Fonny nicht der Täter gewesen sein kann. Vor allem Tishs Familie und Fonnys Vater setzen wirklich ALLES daran, Fonnys Unschuld zu beweisen.

Abgesehen von der Handlung ist Beale Street Blues aber vor allem ein zutiefst berührender, persönlicher Gesellschaftsroman über ein sehr verliebtes, sehr junges schwarzes Pärchen aus Harlem und der Rassismus (in Tishs Fall noch verknüpft mit Sexismus), mit dem sie jeden Tag und überall leben müssen, kommt einem selbst im Jahr 2020 – 46 Jahre nach Veröffentlichung des Buches – so schmerzhaft bekannt vor, dass diese Geschichte genauso gut die wahren Memoiren einer jungen Afroamerikanerin von heute sein könnten. Das muss man sich erst einmal ein paar Minuten lang durch den Kopf gehen lassen.

Perspektive

Die Erzählerin der Geschichte ist Tish selbst, die neunzehnjährige, schwangere Verlobte von Fonny. Ich fand, dass Baldwin das (als homosexueller Mann) wirklich, wirklich gut geschrieben hat. Generell waren es vor allem die weiblichen Figuren in diesem Buch, die mir noch so lange im Gedächtnis bleiben werden und einfach so aktiv gehandelt haben – besonders hervorzugeben sind hier vor allem Tishs Schwestern Ernestine und ihre Mutter Sharon, die allein – in den 70ern, als Afroamerikanerin, als Frau, ALLEIN – bis in ein Favela in Puerto Rico reist, um die vergewaltigte Frau ausfindig zu machen und mit ihr darüber zu reden, dass Fonny nicht schuldig sein kann.

Aber auch Fonny selbst war einfach ein – meiner Meinung nach – herzerwärmender Charakter und so liebevoll, dass die Szenen, in denen Tish ihn im Gefängnis besucht, einfach nur geschmerzt haben. Wer von euch Netflix hat, dem lege ich When They See Us ans Herz, eine Miniserie, die thematisch und atmosphärisch hier sehr an Beal Street Blues erinnert.

Was mir besonders gefiel, ist dass James Baldwin ebenfalls aufgezeigt hat, wie sich die Diskriminierungen auch je nach Geschlecht unterscheiden. So ist für Fonny als afroamerikanischer Mann natürlich die Polizeigewalt einfach immer ein Risiko, gegen die er sich im Grunde nicht wehren kann. Für Tish als Frau hingegen sind Sexismus und sexuelle Übergriffe etwas, womit sie überall rechnen muss, auch auf Arbeit oder in der Öffentlichkeit. Und was habe ich diesbezüglich nicht mit ihr mitgefühlt! Ihre Situation hat mich einfach nur weinen lassen … Zwar bin ich weiß und kann deshalb nicht für Menschen sprechen, die Rassismus und Sexismus gleichzeitig zuspüren bekommen, doch zumindest von Frau zu Frau kann ich sagen – ihr seit nicht allein ❤

Noch kurzes generelles Statement zu Rassismus, Sexismus & anderen Abartigkeiten

Und wenn Tish beschreibt, wie sie in der überfüllten U-Bahn an einen Mann gepresst steht und ihr durch den Kopf geht, dass er einer der Männer sein könnte, die sie vergewaltigen könnten, auch wenn er wahrscheinlich einfach nur ein Mann in der U-Bahn ist, dann zitterten mir die Hände. James Baldwin hat es diesbezüglich einfach erfasst. Ich denke, dass leider viele Frauen, ob schwarz oder weiß, immer wieder ungewollt solche Gedanken durch den Kopf schießen, wenn sie im Alltag unterwegs sind. Und noch einmal, dieser Text stammt aus den 70ern. Was hat sich seitdem geändert? Ich kann mir den Schmerz nicht vorstellen, den Menschen erdulden, die aufgrund ihrer Hautfarbe diesen Übergriffen noch heftiger zum Opfer fallen.

Wir haben 2020. Das ist einer der Gründe, warum ich es nicht okay finde, wenn jemand schweigt oder einfach nichts tut, weil für ihn/sie Rassismus (oder Sexismus oder Homophobie) kein Thema sind, weil er/sie selbst niemanden diskriminiert und selbst nie diskriminiert oder misshandelt wurde auf der Basis von Rasse, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung und dann beschließt, dass Thema einfach abzuhaken. Erzählt das den Menschen, die unter dem Hass und der Verachtung leiden, bin mal gespannt, ob das Thema für sie auch abgeschlossen ist.

Es ist beschämend, dass ein Gesellschaftsroman aus den 1970ern sich ließt wie ein Artikel über George Floyds Ermordung aus der New York Times vom 27. Mai 2020. Und man muss bei sich selbst anfangen, um dieses Übel, diesen Hass auch bei uns in Europa, auszurotten. Was wir alle tun können, liegt letztlich bei uns allein. Fakt ist, wir müssen kritisch über uns nachdenken, nicht nur über unsere Handlungen, nicht nur über unsere soziale Stellung und wir müssen die Opfer hören und für sich sprechen lassen ❤


Fazit

⭐⭐⭐⭐⭐⭐⭐⭐⭐⭐ (10/10)

Ich weiß, dass die letzten Absätze jetzt sehr politisch und aufgeladen waren – aber wenn selbst ein Buch wie Beale Street Blues nicht wachrüttelt und wütend und traurig macht, dann weiß ich wirklich nicht mehr weiter.

James Baldwin ist auf nur 173 Seiten ein wunderschön geschriebener, zutiefst berührender Roman voller Liebe, Schmerz und Ungerechtigkeit gelungen , der alle Leser dazu auffordert, selbst etwas zu tun, damit die Welt eine gerechtere und sicherere wird.

Was das Englisch Niveau betrifft würde ich sagen, dass sich das Buch sehr gut als Vorbereitungslektüre z.B. auf das Englischabitur eignet, da es die gesellschaftliche Relevanz und das sprachliche Niveau besitzt. Es wird mit Dialekt gearbeitet.

Ich werde dieses Buch definitiv noch öfter in meinem Leben lesen und James Baldwin hat sich mit diesem Roman auch definitiv schon in meine Liste der geliebtesten Autoren und Autorinnen geschrieben!

Infos zum Buch [Deutsch]

Titel: Beale Street Blues

Autor: James Baldwin

Verlag: Dtv

Seitenanzahl: 224

Preis: 12,90€ (Taschenbuch)

ISBN: 9783423289870

Infos zum Buch [Englisch]

Titel: If Beale Street Could Talk

Autor: James Baldwin

Verlag: Penguin Random House

Seitenanzahl: 173

Preis: ca. 11€ (Taschenbuch)

ISBN: 9780241384503

Wanderleselust Ep. 4 / {Rezension} RIWAN ODER DER SANDWEG von Ken Bugul

Hei hei an euch da draußen!

Schneller als gedacht stelle ich Euch heute wieder ein neues Wanderleselust-Buch vor. Die Autorin des Werkes, Ken Bugul (eigentlich Mariétou Biléoma Mbaye) kommt aus dem Senegal, hat dort und in Belgien studiert und ist danach wieder in den Senegal zurückgekehrt. Ihr Künstlername, Ken Bugul, bedeutet soviel wie „die, die unerwünscht ist“ und bezieht sich wohl auf ihre Heimkehr nach dem Studium in ihr senegalesisches Dorf, wo sie – unverheiratet und kinderlos – sich erst wieder in die kulturellen und gesellschaftlichen Kreise einfinden muss.

Sie wurde schließlich die 28. Ehefrau eines Serigne. Ein Serigne ist fast so etwas wie ein Scheich, also eine Art geistiger Führer in der Religion des Islam und fand durch ihren Platz in diesem Harem wieder einen Zugang zu ihrer Heimat und sich selbst.

Dieses Buch ist, obgleich als erzählender Roman geschrieben, keine Fiktion.

Gerade für westliche Feministen und Feministinnen stellt dieses Buch daher nicht nur eine Art von Herausforderung dar, sondern zeigt auch wunderbar die Schwächen westlicher Idealvorstellungen von Emanzipation, Beziehungen, Ehe & Liebe auf. Einmal abgesehen davon bekommt man aber auch einen wunderbaren Einblick in die Kultur und die Gesellschaft eines Landes, über das man in Deutschland nicht besonders viel zu lesen/ hören/ sehen bekommt. Ich habe das Wissen dieser 240 Seiten daher aufgesaugt wie ein Schwamm.

Zur Handlung

Das Handlungen sind sehr interessant sturkturiert: Zum einen haben wir die Handlung, die sich mit Ken Bugul selbst befasst, die in der Ich-Perspektive geschrieben ist. Daneben werden aber auch die Geschichten & Erfahrungen weiterer Ehefrauen des Serigne erzählt, insbesondere die von Sokhna Rama und Sokhna Mame Fayes – diese Handlungsstränge werden jeweils durch einen personalen Erzähler erzählt. Diese wechselnde Erzählperspektive habe ich bisher glaube ich noch nie erlebt und ich habe Anfangs kurz gebraucht, um mich damit zurechtzufinden, aber letztlich finde ich, ist auch durch diese Erzählweise ein vielseitige Panorama rund um das Thema Polygamie entstanden.

Denn auch wenn Ken Buguls persönliche Erfahrung als Ehefrau in einer polygamen Ehe sehr positiv war, enthält sie den Lesern nicht vor, dass dies keine universelle Erfahrung ist, die für alle polygamen Ehen gilt – die Probleme fangen bei Eifersucht an und reichen hin bis zu furchtbaren Riten und physischen Attacken.

In die Handlungen mit einbezogen werden auch traditionelle Hochzeitsriten – definitiv eines meiner Lieblingskapitel im Buch, da hoch interessant! – und immer wieder auch politische Standpunkte, die Ken Bugul zwischen der Handlung macht, z.B. zum Thema Waffenexporte oder die ungleiche Verteilung von Resourcen zwischen Armen und Reichen.

Ich habe mir unzählige Passagen gekennzeichnet zum Thema Jungfräulichkeit, den positiven & negativen Facetten von polygamen Ehen sowie zu all den Empfehlungen, die Bugul ausspricht und die senegalesische Regisseure und Autoren gleichermaßen betreffen. Ich liebe es, wenn Autor*innen mir Referenzen mit auf den Weg geben, denen ich nach dem Buch nachgehen kann.

Aus (westlich-)feministischer Perspektive

Ich bin Feministin und als Frau, die in ihrem Leben noch nie einen Fuß außerhalb Europas gesetzt hat und deren Familie und Freunde alle aus westlichen Industrienationen stammen, eben westlich geprägt. Einerseits machte dieser Umstand das Buch für mich doppelt attraktiv, andererseits war es manchmal für mich moralisch sehr schwer, über bestimmte Elemente einer polygamen Ehe dieser Art einfach so drüberzulesen, ohne mal kurz das Buch zuzuklappen und eine Pause zu machen.

Wenn ein Vater dem Serigne zum Beispiel seine 15-jährige Tochter zur Frau schenkt. Das sehr intensive Textzitat darüber lautet:

Geschenk.

Menschengeschenk.

Die geliebte Tochter zum Geschenk.

Totales Geschenk.

Fatales Geschenk.

Unteilbares Geschenk.

Rama war in Mbos aufgewachsen, wo sie kaum sechzehn Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt hatte.

Ken Bugul, Riwan oder der Sandweg

Eine (oder zwei) seiner Ehefrauen hat der Serigne darüber hinaus auch geerbt von einem anderen Serigne, auch daran hatte ich zu kauen 😉 Aber ich bin auch auf sehr viel Positives gestoßen, dass ich vor diesem Buch noch nie bedacht habe, wenn ich über Polygamie nachgedacht habe (was nicht besonders häufig war, muss ich gestehen). Dass diese Gemeinschaft aus Ehemann und Ehefrauen nie Hunger fürchten muss in einem Land, das zunehmend unter Desertifikation leidet. Dass, wie im Falle der Autorin, der positive spirituelle Effekt dieser Ehe sich sehr positiv auf das Innerste der Betroffenen auswirken kann. Bugul schreibt hierzu sehr schön:

So hatte mir also der Serigne die Möglichkeit gegeben, ja geschenkt, mich mit mir selbst, mit meinem Umfeld, mit meinen Ursprüngen, mit meinen Quellen, mit meiner Welt zu versöhnen, ohne die ich niemals überleben würde.

Ken Bugul, Riwan oder der Sandweg

Durch den Status als Ehefrau eines Serigne kommt den Frauen auch ein enormer Respekt vom Rest der Gesellschaft entgegen. Was ich wirklich positiv fand, war der enorme Respekt der Ehepartner füreinander, und meist auch die Zuneigung. Und das, gegenseitiger Respekt, lässt auch in westlichen Ehen und Beziehungen manchmal leider zu wünschen übrig.


Fazit

⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ (9.2)

Wow, der Mai 2020 war für mich wirklich ein Monat ganz starker Bücher und Riwan oder der Sandweg war ganz klar eines davon! Wirklich ein hochinteressanter, emotionaler, aufklärender Roman, den ich vor allem jenen empfehle, die sich für die Kultur eines Landes offen und interssiert zeigen und/ oder sich dem Thema Polygamie aus westlich-feministischer Sicht nähern und nach Quellen aus allererster Hand suchen. Definitiv kontrovers, aber eben auch vielseitig und sehr symbolisch.

Der Schreibstil des Buches hatte durch seine Pointiertheit und klug eingesetzte Wiederholungen etwas sehr Rhythmisches, was mir gut gefiel, auch wenn ich manchmal die Verbindungen zwischen zwei aufeinander folgenden Schlagwörtern nicht so ganz nachvollziehen konnte.


Infos zum Buch

Titel: Riwan oder der Sandweg

Autorin: Ken Bugul

Verlag: Unionsverlag

Genre: Roman/ Biografie

Seitenanzahl: 240

Preis: 12,95€

ISBN: 9783293207912

Wanderlust Ep. 3 / {Rezension} MORD IM AUGUST von Rubem Fonseca

Es ist jetzt kurz nach einundzwanzig Uhr und ich habe soeben die letzten einhundert Seiten von Rubem Fonsecas Mord im August beendet – was für ein Buch. Wirklich, was für ein Buch.

Hier ging es wirklich zur Sache, und wie … Mich würde interessieren, ob Quentin Tarantino dieses Buch kennt, und wenn ja, was er davon hält, weil in diesem Buch gefühlt jeder entweder einen Auftragsmörder engagiert hat, einer war, oder von einem ermordet wurde. Und ich übertreibe damit nicht. Die unfassbare Dimension von Korruption und Gewalt in dieser Geschichte war erschütternd – und das absolut Schlimmste daran: Ein Großteil der Charaktere sind historische Personen, Politiker im Rio de Janeiro des Jahres 1954; dem Jahr, in dem „die größte historische Tragödie Brasiliens herausfbeschworen wird“, um es in den Worten des Klappentextes zu formulieren.

Aber immer langsam mit den jungen Pferden. Fangen wir mit der Handlung an 😉

Zur Handlung

Der August 1954 ist als Monat eines politischen Erdbebens in die brasilianische Geschichte eingegangen. Ein Geflecht – oder eher ein Korsett – aus Korruption, geplanten Attentaten und politischen Gegnern, den damaligen Präsidenten Getúlio Vargas zum Rücktritt zwingen wollen, mündet schließlich in den tatsächlichen Sturz von Vargas – wenn auch nicht so, wie sein politischer Hauptgegner, der Politiker & Journalist Carlos Lacerda, es sich gewünscht hat …

Mittem in dieses Getümmel gerät Komissario Alberto Mattos, ein als unkorrupierbar geltender Polizist, der auf den Mord am Großindustriellen Paulo Machado Gomes Aguiar angesetzt wird, um diesen zu lösen. Da Aguiar zu den oberen Zehntausend und somit zur high society Rios zählte, wird Mattos sehr schnell – und ich meine SEHR SCHNELL – zur Zielscheibe all derer, die sich nicht von einem kleinen Polizisten in ihren Geschäften herumstochern lassen – und dann ist da noch so mancher Lotterieboss, der Mattos am liebsten tot sehen will …

Während Komissario Mattos und Paulo Aguiar beide fiktive Figuren sind, haben Carlos Lacerda, Getúlio Vargas und die anderen politischen Figuren in diesem Roman wirklich existiert. Wer nicht wissen will, was sich politisch abspielt, dem empfehle ich, weder den Präsidenten noch seinen Gegner zu recherchieren 😉

Nur so viel sag ich euch: Vargas war zweimal Präsident; das erste Mal von 1930-1945 als vom Militär ernannter Diktator nach einer Rebellion, und das zweite Mal als demokratisch gewählter Präsident zwischen 1950 und 1954.

Und ich warne euch: Die Zahl an Charakteren, die in Höchstgeschwindigkeit die Bühne betreten und/oder wieder verlassen, ist so hoch, dass ich am Anfang immer mal das Internet genutzen musste, um noch zu wissen, wer hier wer war.

Daher mein Tipp: Schreibt eine Liste mit den Charakteren und ihren Berufen/ politischen Funktionen auf, das wird euch vor allem dann helfen, wenn ihr euch Namen generell nicht so schnell merken könnt (so wie ich).

Dieses Buch ist sehr politisch und ich bin mir sicher, dass ein Leser mit einem Grundwissen über brasilianische Geschichte des 20. Jahrhunderts hier definitiv noch mehr Spaß haben kann mit diesem Buch. Aber auch ich, die ganz und gar nichtsahnend und unvorbereitet in diese Geschichte eingetaucht ist, habe das Leseereignis wirklich genossen – und zwar mehr und mehr, je länger ich gelesen habe.

3, 2, 1 – Action! Korruption, Auftragsmörder & Affären

Autor Rubem Fonseca, der zu Lebzeiten unter anderem selbst als Polizist gearbeitet hat, schrieb auch Drehbücher – und das merkt man in diesem Buch, und wie. An Beschreibungen zu Mimik und Gestik und Umfeld wird sich hier selten aufgehalten und die wenigen Beschreibungen, die man bekommt, klingen zuweilen eindeutig wie Anweisungen aus einem Drehbuch, zum Beispiel „Im Flur.“ oder „Mattos und Alice allein.“ Das sind unveränderte Zitate aus dem Buch, jeweils gefolgt von Dialogen, die jeweils frei allem sind, was nicht wörtliche Rede ist.“ Wer also Liebhaber von ausgedehnten Beschreibungen ist und diese auch nicht missen will, der wird am Erzählstil dieses Romans wenig Freude haben.

Dabei passt er meiner Meinung nach ganz wunderbar zum Ton und zur Handlung des Buches. Je weiter man ließt, umso auswegsloser scheint der Weg hinaus aus dem, was Lacerda als „Sumpf“ bezeichnet – diese nackte, ungeschmückte Korruption, von der jeder in den oberen Gesellschaftsrängen weiß, dass jeder sie betreibt. Es werden Auftragsmörder losgeschickt; jede Ehefrau hat einen Liebhaber und eine Affäre, die sie vom Ehemann und dem Liebhaber fernhält; jeder kann jedermanns Sohn und Ehefrau einfach mal so einen Platz im Senat verschaffen, für einen winzigen Gefallen versteht sich. Wahlscheine werden zu tausenden an Präsidentschaftskandidaten verkauft. Fonsecas schmucklose, triste Schreibweise unterstützt dieses Gefühl. Er lässt wirklich kein gutes Haar an der Oberschicht der Großstadt, die damals noch Hauptstadt Brasiliens war.

Dieser kritische Blick auf die Städte und deren reiche Bewohner, habe ich herausgefunden, war damals ein Novum in der brasilianischen Literatur, das erst mit Fonseca aufkam. Daher gilt sein literarisches Erbe (vor allem Kriminalgeschichten und Kurzgeschichten) auch unter heutigen brasilianischen Autor*innen noch als besonders einflussreich.

Die Frauen

Auch wenn durch das historische Umfeld des Romans (50er, Politik) vor allem Männer in diesem Buch im Fokus stehen, fand ich die beiden zentralen weiblichen Charaktere der Geschichte mit zunehmender Lesedauer wirklich interessant: Mattos wohlhabende Exfrau Alice, die sich einen sehr reichen neuen Freund gesucht hat, den sie mit Mattos betrügt und der sie betrügt; und Salete, die eine Affäre mit einem hochrangigen Politiker hat, der sehr eifersüchtig ist und den sie aber trotzdem mit Mattos betrügt. Beide Damen erschienen mir am Anfang eher wie schmückendes Beiwerk was ihren Beitrag zum Roman anging und ihre Figuren – vor allem Salete – kamen recht flach daher. Mode, shoppen , Geld, Küsschen hier, Sex da – aber vor allem zum Ende hin wird mehr und mehr sichtbar,

  1. weshalb Salate dem Luxus der Reichen so verfallen ist, und
  2. was dieses Leben mit der geistigen Gesundheit von Alice macht.

Fazit

⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐  (9,2)

Mord im August bekommt von mir 9 von 10 Sternen. Es war ein sehr spannendes, faszinierendes Buch, das mir gleichzeitig auch einiges über brasilianische Geschichte beigebracht hat und gleichzeitig das Wort Korruption für mich neu definiert hat. Wenn ich jemals mal wieder House of Cards sehen sollte, dann, dann wird mir Frank Underwood wohl relativ harmlos vorkommen, genau wie ein katzenstreichelndes Kind.

Ich hatte während des Lesens so richtig Lust auf mehr brasilianische Bücher – und auf Matetee in der Kalebasse ❤


Infos zum Buch

Titel: Mord im August

Autor: Rubem Fonseca

Genre: Politthriller/ Krimi

Verlag: Unionsverlag, jedoch nur noch gebraucht erhältlich (meine antiquierte Ausgabe ist vom Ullstein Verlag)

Seitenanzahl: 400

Preis: bei mir 1,99€ – ansonsten kommt es bei gebrauchten Büchern natürlich auf den Verkäufer an.

Wanderleselust Ep. 2 / {Rezension} TO THE VOLCANO, AND OTHER STORIES von Elleke Boehmer

Es ist Samstag, mein Freund ist mit seinem Besten zum Golfen gefahren, und somit habe ich endlich DIE Gelegenheit, euch von To the volcano, and other stories von Elleke Boehmer zu erzählen, meiner (erst!!) zweiten Kurzgeschichtensammlung und die erste von der südafrikanischen Autorin. Dabei spielen die zwölf Geschichten nicht ausschließlich in Südafrika – tatsächlich wurden die genauen Schauplätze nur in wenigen Geschichten explizit genannt, aber mit den vereinten Kräften meiner geografischen Kenntnisse und des Internets war ich in der Lage, innerhin einige herauszufinden, bei anderen blieb es jedoch bei (starken) Vermutungen – und ich sage euch, dieses kleine Rätselraten hat mir Spaß gemacht.

Zu den Geschichten

Eigentlich ging es in dieser Sammlung aber ohnehin eher darum, Geschichten aus den Perspektiven der Bewohner*innen der Südhalbkugel zu erzählen, ob nun in Südamerika, Afrika oder Australien & Ozeanien. Wir treffen auf Studenten fernab ihrer Heimat, ehemalige Soldaten, Verliebte, die der Liebe wegen auswandern, eine junge Reisende, die von ihrer Sehnsucht ans andere Ende der Welt getragen wird, Forscher auf Vulkanexpedition, eine Joggerin und noch viele andere.

Mir fällt es schwer, einen persönlichen Favoriten unter den Geschichten zu bestimmen. Evelina war definitiv eine meiner Lieblingserzählungen dieser Sammlung, was unter anderem daran lag, dass mir die Geschichte aus dem Herzen gesprochen hat: In dieser Geschichte geht es um eine junge Frau am Flughafen, die kurz vor ihrer Abreise nach New York steht, wo ihr Freund bereits auf sie wartet. Als Auswanderin konnte ich ihre Gefühle nur zu gut nachvollziehen, daher traf mich ihre Geschichte definitiv ins Herz. Aber auch mit der titelgebenden Geschichte To the volcano hatte ich viel Vergnügen; dieser wohnte meiner Meinung nach die stärkste Magie inne, sie hatte etwas Mysteriöses und auch teilweise beinahe Verstörendes an sich.

Perspektive & Stil

Meiner Meinung nach ist der Perspektivwechsel hier deutlich zu spüren – ich fand die Erzählungen erfrischend und anders auf eine Weise, die ich nicht so recht in Worte fassen kann. Es tat gut, Städte wie Paris aus den Augen einer Person zu besichtigen, für die Paris nicht nur rund 2 Stunden, sondern gute 24 Stunden mit dem Flugzeug entfernt liegt. Es war abenteuerlich, in den ersten erloschenen Vulkan meiner literarischen Weltreise zu klettern und mitzuerleben, welch seltsame Dinge dort geschahen … Die Protagonisten mal nicht deutsch, amerikanisch, englisch oder französisch, sondern argentinisch, australisch, südafrikanisch, botswanisch – das habe ich genossen und es hat mich hungrig auf MEHR gemacht, auf viel mehr 😉

Elleke Boehmers Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Sie erzählte flüssig, gehoben (als Literaturprofessorin in Oxford zu erwarten) – aber niemals abgehoben. Insgesamt sehr ausbalanciert und, ja, einfach angenehm. Für Englisch-Anfänger eventuell nicht optimal, aber man muss auch kein Englischprofi sein, um hier in den Genuss der Erzählungen zu kommen 😉 Von Elleke Boehmer ist bisher nur wenig auf Deutsch erschienen, wenn man von ihren Werken über Nelson Mandela absieht, die zu ihren wichtigsten literarischen Erfolgen zählen. Allerdings hat sie bereits fünf weitere Romane veröffentlicht, sowie Fachbücher über postkoloniale Literatur und Frauen. Dem deutschen Leser sind hier also leider einmal mehr die Hände gebunden 😦

Fazit

⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ ⭐ (8.0)

Insgesamt ein tolles Buch, dessen Geschichten ich bestimmt noch häufig lesen werde. Die meisten Geschichten fand ich wirklich gut, einige noch besser, bei ein paar wenigen (wirklich nur ein oder zwei) war mir die Botschaft etwas zu flau. Von Elleke Boehmer würde ich bei Gelegenheit wirklich gerne noch mehr lesen – und da es mehr gibt, wird es wohl eher eine Frage der Zeit 😉

Der Stil ist nicht verkomplizierend, obgleich Elleke Boehmer hier natürlich nicht in simpler Jugendbuchsprache schreibt, aber das Buch sollte daher für Leser mit gutem Leseverständnis im Englischen auch wirklich machbar sein.

Wunderbare Lektüre für sonnige Tage im Grünen ☀️


Infos zum Buch

Titel: To the volcano, and other stories

Autorin: Elleke Boehmer

Genre: fiktionale Kurzgeschichten

Seitenanzahl: 177

Verlag: Myriad Editions

Preis: ca. 12,00€ (Taschenbuch) oder als e-Book auch schon ab 6,99€ (z.B. bei buecher.de)

ISBN: 9781912408245


Genießt den Mai auch weiterhin! Ich wünsche euch noch viele sehr gute Bücher diesen Sommer ❤

Ich glaube, in ein paar Tagen mit Rubem Fonseca fertig zu sein – und dann, ihr Lesebegeisterten da draußen, geht es auf nach Brasilien! (Ich bin so begeistert, war definitiv nicht mein letztes Buch aus Brasilien)

Bis dahin verbleibe ich

Eure Lotti Xx

{Rezension} DER FUNKE DES LEBENS von Jodi Picoult

Hallo ihr Lieben 🙂

Frisch von Arbeit muss ich jetzt erstmal entspannen und eine Buchrezension schreiben. Ich habe in der vergangenen Woche Jodi Picoults Der Funke des Lebens gelesen – der englische Titel lautet A Spark of Light und auf Englisch habe ich es auch gelesen, denn es war in meiner Spezial-Quarantäne-Sonderbox von Books That Matter.

Ich habe dieses Buch in meiner Mai Vorschau schon einmal angekündigt und dort habt ihr auch schon erfahren können, worum es hier geht: Vater-Tochter-Beziehungen und Abtreibung – ein Thema, über das glaube ich niemand gerne nachdenkt, egal, auf welcher Seite des Meinungsspektrums man steht.

Los geht’s.

Zur Handlung

Wir befinden uns in Jackson, Mississippi, etwa im Jahre 2017/18. George Goddard betritt bewaffnet die einzige Klinik des us-amerikanischen Bundesstaates, der Abtreibungen durchführt und schießt dort auf Patientinnen und Personal, tötet, verletzt und nimmt die Überlebenden als Geiseln. Sein Motiv: Seine minderjährige Tochter hatte eine Abtreibung und er wollte sich für das Leben an seinem ungeborenen Enkelkind gewissermaßen rächen. Unter den Geiseln ist auch Wren McElroy, die Tochter von Polizist Hugh McElroy, dem Unterhändler bei Geiselnahmen. Unter den anderen Geiseln ist Wrens Tante Bex, der behandelnde Arzt Dr. Louies Ward, die Abtreibungsgegnerin Janine, sowie die Patientinnen Joy, Izzy und Olive. Während alle Geiseln in der Klinik um ihr Leben fürchten, tut Hugh alles dafür, George zur Aufgabe seiner Geiselnahme zu überzeugen.

Etwa zweieinhalb Autostunden von Jackson entfernt, in Oxford (nicht zu verwechseln mit dem Oxford in England), wacht die junge Beth im Krankenhaus auf, die ihren sechzehn Wochen alten Fötus mit Pillen aus dem Internet abgetrieben hat und sich nun vor Gericht wegen Mordes verantworten muss (Höchststrafe in diesem Falle wären etwa 23 Jahre Haft, wenn ich mich richtig erinnere).

Erzählweise

Ein Großteil der Handlung verläuft über die Gedanken der Figuren. Zwar passiert auch aktiv sehr viel, immerhin haben wir es mit einer Geiselnahme zu tun, jedoch fängt beinahe jeder neue Absatz damit an, dass eine der Figuren sich an eine Handlung oder einen Moment in ihrer/ seiner Vergangenheit erinnert. Das passiert so häufig und regelmäßig, dass ich es am Anfang schon beinahe nervig fand, weil ich vor lauter Rückblenden drohte zu vergessen, was gerade geschehen war. Diese anfängliche Orientierungslosigkeit hatte bei mir definitiv damit zu tun, dass die Geschichte quasi „umgedreht“ erzählt wird – der Leser liest also zuerst das Ende der Geschichte und arbeitet sich dann mit zum Anfang der Geschichte (am Ende des Buches) durch. Das wusste ich nicht und war deshalb teilweise ganz schön verwirrt am Anfang, bis es mir aufgefallen ist xD Ich habe noch nie ein Buch gelesen, dass im Memento-Stil geschrieben ist, wusste jedoch, dass dieses Erzähltechnik dann und wann angewendet wird.

Ich habe ein wenig auf Goodreads herumgestöbert und dabei ist mir aufgefallen, dass viele Leser*innen doch sehr mit der Erzählweise zu kämpfen hatten und sie als nicht-hilfreich und/oder störend empfanden. Mehrfach habe ich gelesen, dass empfohlen wurde, dass Buch wie einen Manga stattdessen einfach von hinten nach vorne zu lesen, das täte der Spannung gut. Und hätte man mich nach der Hälfte des Buches gefragt, dann hätte ich dem wohl zugestimmt,. Jedoch habe ich meine Meinung nach Beendigung des Buches geändert und ich sage euch auch warum:

Meiner Meinung nach würde die Geschichte so, wie sie erzählt wurde, ihre Stärke verlieren, wenn man es von hinten nach vorne läse. Ich bin zu diesem Schluss gekommen, weil ich persönlich finde, dass die ganze Geiselnehmer-Sache zwar eine Freitag-Abend-Thriller Spannung erzeugt, es Frau Picoult aber um das Innerste ihrer Figuren geht. Und durch die umgedrehte Timeline kehrt der Fokus zurück zu den Figuren und bleibt nicht an den äußeren Umständen hängen, an der Geiselnahme und der Wer-stirbt-als-nächstes Frage. Zumindest ging es mir so, und so erkläre ich mir auch diesen ganze Haufen an Rückblenden und Gedanken.

Meine Meinung

Ich fand es wahnsinnig spannend, die Hintergründe der einzelnen Figuren zu erfahren, vor allem die der Patientinnen und weshalb sie sich für eine Abtreibung entschieden haben. Ich persönlich bin der Meinung, Abtreibungen sind kein lifestyle und Frauen, die sich für diesen Weg entscheiden, sollten von niemand jemals so behandelt werden, als würden sie diese Entscheidung aus Bösartigkeit oder Jux und Langeweile fällen. Das Beispiel von Beth in diesem Buch zeigt sehr gut, was geschieht, sollten Abtreibungen generell illegal gemacht werden. Wie Dr. Ward an einer Stelle denkt:

If he had learned anything during his years as an abortion doctor, it was this: there was nothing on God’s green earth that would stop a woman who didn’t want to be pregnant.

Jodie Picoult, Der Funke des Lebens

Es gibt in diesem Buch zwei sehr große Abtreibungsgegner unter den Hauptfiguren, nämlich George Goddard (der Schütze) und Janine, die Abtreibungsgegnerin. Leider war mir gerade Janine sehr unsympathisch, was nicht unbedingt an ihren Überzeugungen lag (auch wenn ich diese nicht teile), sondern eher an ihrer Argumentation – es ist sehr schwer, hier nichts zu verraten, daher halte ich es wage. Ich habe es ihr ab einem bestimmten Punkt einfach sehr übel genommen, dass sie sich über alle anderen Frauen stellt und von dieser Einstellung so gar nicht abweicht. Gerade die Beziehung von Joy und Janine hat meiner Meinung nach am meisten darunter gelitten, dass das Ende der Geschichte zuerst kam, denn ich hätte gerne einen längeren Dialog zwischen den beiden gelesen nach den Vorfällen.

Auch gibt die Autorin in ihrem Nachwort an, dass sie für die Recherche des Buches mit vielen Abtreibungsgegnern gesprochen hat, die nicht religiös waren und ebenso gute Gründe für ihren Standpunkt anführen konnten wie die Beführworter. LEIDER – und das ist ein sehr großes Leider, denn es hat mich extrem gestört – bekommt man absolut keinen Gegner in dem Buch zu hören, der nicht religiös ist. Sowohl George, als auch Janine und Alan und ein paar andere kleine Nebenfiguren, die entweder Protestanten sind oder Gesetzeshüter – ALLE sind religiös, zitieren ständig die Bibel oder bringen Gott und Jesus als Argumente an. ALLE. Daher stimme ich denjenigen Lesern zu, die in ihren Rezensionen geschrieben haben, dass man sehr wohl merkt, für welche Seite die Autorin selbst sympathisiert. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass auf der Gegner-Seite auch Charaktere sind, die andere Beweggründe haben außer ihre religiösen Überzeugungen – aber die fehlen in diesem Roman einfach komplett.

Auch würde ich Wren nicht unbedingt als die Hauptcharakterin sehen – sie ist ein durchschnittlicher Teenager und eher semi-interessant. Sie Beziehung zwischen ihr und ihren Vater Hugh, der über das Telefon mit Hugh verhandeln wollte, war berührend, aber Hugh war mir irgendwie auch etwas zu sehr der weiße Ritter – der strahelnde Held unter den Unterhändlern, der schon Jugendliche von Dächern geholt hat et cetera. Seine Telefonate mit George waren mir allesamt zu kurz, um die durchaus interessante Beziehung zwischen den beiden Vätern zu beleuchten. Auch das fand ich sehr schade, dieser ganze Hugh-George-Aspekt kam VIEL zu kurz, vor allem wenn ich mir vor Augen halte, wie viel die beiden gemeinsam haben.

Beths komplette Geschichte kam immer nur mal hier, mal dort vor im Buch, was dann dazu führte, dass ich ständig vergaß, was mit ihr zuletzt passiert war. Deswegen war ich eigentlich am glücklichsten, wenn die ständig wechselnde Perspektive zu Joy, Janine, Izzy oder Dr Ward fiel, deren Hintergrundgeschichten ich wirklich interessant fand und dann auch wirklich durchgesuchtet habe. Ich mochte Janine nicht sonderlich, aber sie tat mir leid und ich fand sie interessant.


Fazit

Hach, es ist schwer. Ich mochte dieses Buch, aber es hatte seine eindeutigen Schwächen, gerade was liegengelassene Figurenbeziehungen betrifft und die Meinungsvielfalt unter den Abtreibungsgegnern. Teilweise hatte es wirklich was von einem ARD FilmMittwoch Thriller, der schön kontrovers ist, vollgepackt mit erzkonservativ-religiösen, bewaffneten Bösewichten, wo es ordentlich piff und paff macht, um die Einschaltquoten hoch zu halten. Andererseits öffnet das Buch auch eine gute Grundlage, um eine offene Diskussion zu starten und in ihrem Nachwort ruft die Autorin auch unbedingt dazu auf, diese Diskussion zu führen – friedlich und offen. Diesen Frieden spürte ich während des Lebens, er wurde vor allem in der Figur des Dr Ward (eventuell meiner Lieblingsfigur in diesem Buch) sehr stark verkörpert.

⭐⭐⭐⭐⭐⭐ (6.9)

Ich gebe insgesamt 6.9 von 10 Punkten. Jodi Picoult ist für mich momentan noch eine Art guilty pleasure Autorin, was unglaublich schade ist, denn sie befasst sich mit sehr kontroversen, tabuisierten Themen und dieses Engagement wünsche ich mir von mehr Autorinnen und Autoren dieser Tage. Meiner Meinung nach hat sie ein Händchen dafür, solche Themen angemessen zu präsentieren. Aber solange ich mich teilweise wie beim Fernsehengucken fühle, fehlt mir so der letzte Schliff. Ich hätte dieses Geiselnehmerdrama und das Herumgeschieße nicht gebraucht, um eine tolle Geschichte rund um das Thema zu spannen. Vielleicht ist es etwas Amerikanisches. Statt des Dramas hätte ich mir mehr Dialog zwischen Joy und Janine gewünscht, und George und Hugh. Und mehr Meinungsvielfalt unter Abtreibungsgegnern. Dennoch ein lesenswertes, spannendes Buch, in dem jede Figur ihre/seine Geschichte erzählen darf.

Infos zum Buch [Deutsch]

Titel: Der Funke des Lebens

Autorin: Jodi Picoult

Verlag: C. Bertelsmann

Seitenanzahl: 448

Preis: 22,00€ (nur Hardcover, da Übersetzung erst diesen April erschienen)

ISBN: 9783570104002

Infos zum Buch [Englisch]

Titel: A Spark of Light

Autorin: Jodi Picoult

Verlag: Hodder & Stoughton

Seitenanzahl: 368

Preis: ca. 7,99€ (Taschenbuch), ca. 18,99€ für die broschierte Ausgabe

ISBN: 9781444788112 (Taschenbuch)

9780345545008 (broschürte Ausgabe)