Um euch etwas Kontext zu geben: Es ist ein Uhr in der Nacht, ich habe zwei lange Sprachnachrichten an eine Freundin geschickt, habe in Rekordzeit eine Flasche alkoholfreies Bier getrunken, bin durch Goodreads Rezensionen geskipt – ich bin gerade richtig frustriert.
Nicht traurig.
Nicht am Boden zerstört oder in Tränen aufgelöst.
Frustiert.
Ich war optimistisch, dass ich diesem Buch gegenüber am Ende sehr positiv gestimmt sein würde. Es lässt sich verdammt leicht lesen, ich habe ein großes Herz für griechische Mythologie, ich war sehr angetan von der Idee, mal nicht den alten Paris-liebt-Helena Hut vorgesetzt zu bekommen, sondern stattdessen die Romanze zwischen Achilles und seinem Gefährten/ Freund/ Schüler Patroklos. Nach der ersten Hälfte des Buches dachte ich noch, dieses Buch wird ein solides, angenehm leichtes Leseerlebnis, bei dem an Tragik wahrscheinlich nicht gespart werden wird, perfekt für die ersten richtig warmen Frühlingstage. Wenig wusste ich, wie sehr die zweite Hälfte den Karren vor die Wand fahren würde.
Handlung
Die Handlung lässt sich schnell zusammenfassen. Wir befinden uns im antiken Griechenland, im goldenen Zeitalter der Helden und Götter. Es geht um die Liebesbeziehung zwischen den Halbgott Achilles und seinem Freund und Gefährten Patroklos, erzählt aus der Perspektive von Letzterem, von der Kindheit bis hin zum Tod. Der Rahmen der Geschichte ist weltberühmt, die beiden sind Figuren der Ilias und als solche spielt natürlich der trojanische Krieg als Schauplatz eine zentrale Rolle, vor allem in der zweiten Buchhälfte. Meine Generation kennt den Film Troja wahrscheinlich noch (dieser ehm nicht gute Hollywoodstreifen mit Brad Pitt und Orlando Bloom) und einige von euch haben vielleicht auch die Ilias in der ein oder anderen Form gelesen (so wie ich vor vielen vielen Jahren, aber nur in einer Übersetzung für Jugendliche) und wissen daher, wie die Geschichte ausgeht. Für alle anderen lasse ich das an dieser Stelle trotzdem einmal offen.
Ich wollte dieses Buch unbedingt lesen; mein einziges Bedenken nach den ersten beiden Kapiteln war, wie es gelingen soll, eine Zeitspanne von ca. 20 Jahren in ~350 Seiten zu packen. Ich bin keine Freundin von Zeitraffern, leider sind Zeitraffer in diesem Buch aber das Mittel der Wahl und das merkt man von Anfang an. Patroklos‘ Geschichte beginnt mit einer kurzen Schilderung seiner Geburt, danach führt er uns anhand einiger Anekdoten durch seine Kindheit und frühe Jugend. Sowie er als Junge/ junger Jugendlicher auf Achilles trifft, verlangsamt sich das Erzähltempo etwas, damit Platz für die beginnende Liebesbeziehung der beiden ist. Ich will nicht lügen, ich mochte die erotisch aufgeladene Stimmung in diesen Kapiteln, das waren mit unter meine Lieblingskapitel, allerdings verpuffte diese Stimmung schnell wieder. Man erfährt von der Unterrichtung der durch den Zentaur Chiron und von der Prophezeiung, dass Achilles der größte kriger seiner Generation werden wird, er sich jedoch entscheiden muss: Entweder er wird jung und ruhmreich sterben, sein Name unvergessen bleiben. Oder er wird ein langes aber ruhmloses Leben führen können, und niemand wird sich je an ihn erinnern. Sehr zu Patroklos‘ Bedauern entscheidet sich Achilles natürlich für Option 1 – und zieht in den trojanischen Krieg. Patroklos begleitet ihn (aus Liiiieeeebe), dabei ist er ein mieserabler Kämpfer und kann auch sonst nichts, was ihm in einer Armee irgendeine Daseinsberechtigung geben würde. Korrigiert mich, wenn ich Mumpitz erzähle, aber soweit ich weiß, ist auf dem Schlachtfeld kein Platz für Leute, die keinen Beitrag leisten. Aber gut, Liebesgeschichte, die zwei wollen sich nicht trennen, weder in diesem Buch noch in der Ilias.
Erste Hälfte wie YA, zweite Hälfte WTF
Die erste Hälfte des Buches gefiel mir noch. Es hatte sehr viel von einem Jugendbuch, meiner Meinung nach. Man kommt sehr einfach hinein in die Geschichte, die Hauptfiguren sind noch jung und in Patroklos‘ Fall etwas wackelig auf den Beinen. Die Dialoge sind kurz und recht eindimensional, soll heißen da muss man nichts hineininterpretieren, hinter den Worten steckt nichts weiter als das, was sie offen preisgeben. Das wird übrigens als eine von Achilles‘ Charaktereigenschaften dargestellt, dass nichts von dem, was er sagt, versteckte Bedeutungen hat. Im Buch steht dann sinngemäß „andere sahen darin einen Beweis für die Schlichtheit seines Geistes, aber so war es nicht“. Na ja, der Meinung kann man sein, vor allem wenn man erst vierzehn ist und über beide Ohren verliebt. Wenn jedoch (wie gesagt, das Buch umfasst gute zwei Jahrzehnte) zwei Männer, die auf die dreißig zugehen, noch immer so inhaltsleere Dialoge miteinander führen wie am Anfang des Buches, dann tut es mir leid, aber dann seid ihr zwei vielleicht wirklich schlicht nicht die hellsten Kerzen auf dem Kuchen. Das ist auch völlig okay, aber tut nicht so als ob. Wenn ihr euch jetzt fragt, aber was sind das denn bitte für Dialoge, dann habe ich auch sämtlichen Dialogen zwischen den beiden, an die ich mich erinnern kann, hier mal einen Querschnitt erstellt:
Patroklos: Wo warst du?
Achilles: Bei meiner Mutter.
Patroklos: Wie geht es ihr?
Achilles: Ihr geht es gut.
Patroklos: Hat sie was über mich gesagt?
Achilles: Nein.
Patroklos: Was hat sie gesagt?
Achilles: Ach, nichts weiter.
Patroklos: Du weißt, Achilles, wo du hingehst, da gehe auch ich hin. Ich will nicht ohne dich leben. Ich kann nicht. Wenn du stirbst, dann bringe ich mich um.
Achilles: Ja, ich weiß.
Ich übertreibe nicht, dieser Art sind die Dialoge zwischen den beiden. Achilles geht ständig zu seiner Wassernymphenmutter Thetis und jedes Mal, wenn er zurückkommt, stellt Patroklos ihm die gleiche Frage: „Wie geht es deiner Mutter?“ Auch dreizehn Jahre später noch. Junge, seine Mutter hasst dich, du bist ihr den Seetang unter ihren Fingernägeln nicht wert, sie interessiert sich einzig und allein für den Ruhm ihres Sohnes, glaubst du wirklich, die Mutti beginnt die Unterhaltung mit „Ach Achilles, also meine Woche war wirklich anstrengend, ich weiß wirklich nicht, ob ich noch lange durchhalte, ich habe da diese eine Nachbarin, die …“?? Zumal Achilles ihm jedes Mal die gleiche Antwort gibt, nämlich dass es ihr gut gehe. Wenn es nicht gerade um die Befindlichkeiten von Thetis geht, reden die beiden eigentlich ständig nur über Achilles Besessenheit, Ruhm zu erlangen, oder Patroklos will irgendetwas von Achilles. Dass er für ihn Laute spielt. Dass er XYZ rettet. Dass er dies oder das tut. Dass er auf keinen Fall Hector töten soll, worauf Achilles wie eine schlecht programmierte KI immer das gleiche sagt: „Er hat mir nichts getan, warum sollte ich ihn töten wollen?“ Weil du diesen Krieg gewinnen willst und er nun einmal das Zentrum der trojanischen Armee ist, Dummbo. Weil du der einzige bist, der dazu fähig ist, Hector zu besiegen, ergo kriegst du deinen blöden Ruhm auch nicht, solange Hector das Heer anführt. Aber wie gesagt, weiter als bis zum Satzende denkt er nicht und seine Sätze sind in der Regel sehr kurz.
Wie viele andere Leser:innen habe ich mich am Anfang gefragt, wie Achilles überhaupt dazu kommt, sich in Patroklos zu verlieben. Es erschließt sich nicht – am Ende vielleicht ein bisschen, aber dann zu sagen „Das wird es gewesen sein, was Achilles schon immer in Patroklos gesehen hat“ ist mir zu viel der Ausreden, weil man diese Entwicklung anhand dessen, was Patroklos als Jugendlicher tat und sagte, eben nicht ablesen konnte. Vor allem nicht, wenn man selbst zu blöd ist, Zusammenhänge herzustellen. Dass Patroklos sich in Achilles verliebt, ist absolut nachvollziehbar, auch wenn es definitiv keine gesunde Liebe ist – und sich nie zu einer entwickelt. Patroklos ist das graue Mäuschen, der enterbte Sohn, der von allen ignoriert wird, der allen egal ist, der nichts wirklich kann und auch keine Affinität zu irgendetwas hat. Absolut verständlich, dass jemand, der sein Leben lang übersehen und kleingemacht wurde, sich in den göttlich schönen, übermenschlichen Achilles verliebt, den jeder toll findet und der stärker und besser ist als alle anderen. Und der das weiß und in dieser Rolle aufblüht. Bescheidenheit ist kein zweiter Vorname von Achilles. Der lautet Meiner-Mutter-geht-es-gut. Aber anders herum? Achilles hat keinen Grund, noch sagt er Patroklos jemals, was er an ihm so sehr liebt. Kein einziges Mal fragt er Patroklos nach seiner Geschichte, kein einziges Mal zeigt er irgendein Interesse an seiner Person, seiner Geschichte. Ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass Achilles schlicht das Gefühl liebte, dass jemand ihm in den Tod folgen würde, dass jemand ohne ihn nicht sein will/kann. Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, dass Achilles je Patroklos Liebe erwidert. Dass er erst am Ende mitbekommt, was für ein Haufen Kacke er ist und sich dann zum ersten Mal ein wenig selbst reflektiert. Und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass Patroklos auch den Achilles liebt, der vor ihm steht, sondern eine romantisierte, moralisch bessere Version von ihm, die nicht existiert und niemals existiert hat. Leider wird das von dem Buch aber nicht so dargestellt, sondern als große, sexy, tragische Romanze zelebriert. Dabei ist diese Beziehung – man könnte beinahe sagen toxisch.
Wenn dein Partner dir ständig sagt, er würde sich für dich ins Messer werfen und alles, was du dazu zu sagen hast „Ja, ich weiß“ lautet, dann wäre es an der Zeit, mal ganz offen miteinander über die gemeinsame Beziehung zu reden. Das ganze wird quasi auf die Spitze getrieben, weil das genau das ist, was Patroklos Achilles an einer Stelle vorschlägt. Achilles hat sich zerworfen mit König Agamemnon, dem obersten Heeresführer, und hat ihm gesagt „Dude, solange du mich nicht auf Knien um Vergebung bittest, werde ich keinen Finger mehr in deinem Krieg rühren.“ Dadurch geriet die griechische Armee stark in Bedrängnis, weil sie ohne Achilles offenbar keinen Kampf gewinnen können. Weil Patroklos nicht länger dabei zusehen will, wie sinnlos Menschen abgeschlachtet werden, nur weil zwei Alphas ihren Unterhosenvergleich nicht unterbrechen wollen, geht er also zu Achilles und sagt: „Du, Achilles, gib mir deine Rüstung, ich verkleide mich als dich und zeige mich auf dem Schlachtfeld, damit alle denken, du seiest wieder da. Dann rennen die Trojaner schreiend davon und wir gewinnen und du kriegst deine Ehre, ohne was dafür tun zu müssen. Ich kann zwar nicht kämpfen, aber keine Sorge, es werden eh alle vor mir wegrennen.“ (als ob Hector alles fallen lassen würde und schreiend das Weite suchen würde bei Achilles Anblick). UND WAS TUT ACHILLES?! WAS TUT ER? ER STIMMT ZU. Wer stimmt so einem Schwachsinn auch noch zu? Das wäre, als würde mein Freund mich Hochschwangere zum Free Climbing gehen lassen, nachdem ich ihm versichere „Du, da passiert gar nichts, ich fall schon nicht runter.“, dabei habe ich Höhenangst und war noch nie klettern und mein Freund weiß das. Und dieses Dummbrot von Halbgott stimmt ihm zu, kriegt aber den eigenen Arsch nicht hoch, weil er sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Patroklos – lauf um dein Leben, renn weg von diesem Mann solange du noch kannst. Der lässt dich ins offene Messer rennen. Soweit ich weiß, entspricht diese Version zwar dem Original, aber liebe Madeline Miller, im Sinne der Logik und der Glaubwürdigkeit Ihrer Liebesgeschichte, warum um alles in der Welt haben Sie sich nicht die künstlerische Freiheit genommen, diese Stelle abzuändern? Wieso???
Aber am schlimmsten war für mich das unregelmäßige, stets wechselnde Erzähltempo des Buches. 350 Seiten waren meiner Meinung nach einfach nicht ausreichend, um die Geschichte in dem Kontext zu erzählen, wie Madeline Miller es wollte. Oder sie hat es einfach nicht gut umgesetzt. Heraus kam eine verhunzte zweite Buchhälfte, in der das Erzähltempo nicht stillhalten konnte und beide Hauptcharaktere vor die Wand gefahren wurden. Eine der Kernstellen der Ilias, eine der wichtigsten Stellen und ganz sicher die wichtigste Stelle in Achilles‘ Heldenepos, wird in einem Zeitrafferkapitel innerhalb eines Paragraphen abgefrühstückt. Ich war fassungslos.
Liebe Leute, die bei diesem Buch geweint haben, die diesem Buch die Romanze abgekauft haben und diesem Buch fünf Sterne gegeben haben und es zu ihren Highlights des Jahres zählen – bitte bitte erklärt mir, was hat euch emotional an diese beiden Figuren gebunden? An welcher Stelle war euch ihr Schicksal nicht länger total egal? Wie kann der wahre Star des Buches nicht Odysseus sein, der einzige nebst Priamos, König von Troja, der ein Gehirn zu besitzen scheint und vernünftig sprechen kann? Abgesehen davon, dass Odysseus Achilles‘ und Patroklos‘ Dummheit mit jedem seiner Sätze nur noch mehr hervorhebt, was tatsächlich absolut lustig und lesenswert ist.
Die schmerzhafteste Erkenntnis für mich war, dass dieses Buch den Women’s Prize for Fiction 2012 gewonnen hat, der damals noch Orange Prize hieß. Ich habe Achtung vor diesem Preis, war die letzten Jahre immer voller Vorfreude, wenn die Longlist und Shortlist bekanntgegeben wurden und dann letztlich die Preisverleihung stattfand. Ich verstehe es nicht, wie dieses Buch diesen Preis gewinnen konnte? Vor allem von einem Preiskomitee, dass von sich behauptet, herausragende feministische Literatur von Autorinnen zu würdigen. Warum hackt man auf Twilight herum, aber dieses Buch bekommt den Lorbeerkranz aufgesetzt? Edward Cullen, so fehlerhaft er auch ist, hatte mehr Substanz als dieser Achilles. So scheiße der 2004er Troja Film auch war, die Brad Pitt Version ist mir zehnmal lieber als dieser dümmste aller Charaktere.
Ein positives Wort bleibt mir noch zu sagen: Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt gelangweilt. Selbst als es immer alberner und frustrierender wurde, es hatte so ein bisschen das Wesen von Fast Food. Man hat Bock drauf, man genießt die Schlichtheit, die Einfachheit, die Zugänglichkeit, aber am Ende ist es kein gutes und auch kein gesundes Essen und man ist sich dessen bewusst und erfreut sich dennoch an jedem Bissen. Und wenn Achilles der Burger war, der nicht so aussieht wie in der Werbung, und Patroklos die semiguten, schon etwas schlabberigen Pommes darstellte, die man mit viel Ketchup und Mayo dann auch noch okay findet, dann war Odysseus das Eis mit einer fetten Ladung Karamellsoße – das einzige Objekt wahrer Begierde, auf das man sich die ganze Zeit über freut und der mit Abstand der beste Teil des gesamten Menüs 😉
In diesem Sinne,
Habt Spaß an euren Büchern ❤
Eure Lotti